[mysteriöse Musik] Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Wir stellen uns in dem Podcast "111 Kilometer Akten" die Frage: Wo ist meine Akte eigentlich? Da hast du Dagmar Hovestädt, Leiterin der Kommunikation im Stasi-Unterlagen-Archiv, eine Podiumsdiskussion geleitet, die wir jetzt hören werden. Worum ging es da?
Dagmar Hovestädt: Na, das Schlagwort von "Wo ist meine Akte?" ist tatsächlich ein historisches Schlagwort, das war nämlich das Begehr der Bürgerinnen und Bürger, die 1990 und Ende 1989 schon, in die Stasi-Dienststellen gegangen sind und dort diese Dienststellen besetzt haben, um die Stasi daran zu behindern, Akten zu vernichten. Und diese Frage nach der eigenen Akte ist auch die Frage danach, was die Stasi eigentlich in 40 Jahren alles gespitzelt hat und an Informationen über mich selbst gesammelt hat und die Bemächtigung dieser Information, also dieses Zurückholen der Information an mich selber.
Maximilian Schönherr: Ich war bei der Veranstaltung nicht dabei. Ich bin Maximilian Schönherr. Ich bin Journalist. Ich habe das Archivradio im SWR, in der ARD gegründet und kenne das Archiv vor allem aus dem Audio-Bereich. Aber ich bin von außen quasi, während Dagmar Hovestädt von innen ist und deswegen auch diese Podiumsdiskussion geleitet hat. Was für mich total faszinierend war, ist diese Breite des Spektrums, die Gemengelage, wie die Gefühls- und die politische Gemengelage Ende 1989 war. Das finde ich speziell. Das habe ich in dieser kompakten Form noch nie gehört. Und man könnte da x-Titel herausfischen, wir hätten es also "Wo ist mein Akte?" nennen können - so nennen wir es ja - aber wir hätten es auch nennen können: Wie im Herbst die Blätter. Dass es auch noch mit einer "Frauenbewegung" -in Anführungszeichen, weil die damals nicht so hieß in der DDR - zusammenhängt, ist nochmal ein Extrablatt. Und später wird es dann ja auch noch durch wissenschaftliche Forschungen abgedeckt oder konterkariert.
Dagmar Hovestädt: Genau.
Maximilian Schönherr: Also, man hat einerseits den Eindruck die Stasi-Akten werden jetzt in den Stasi-Gefängniszellen abgelegt. Ich will jetzt nicht zu viel verraten, das ist eine spannende Stelle. Und andererseits sind viele Sachen dann doch nicht mehr auffindbar.
Dagmar Hovestädt: Das ist deswegen so spannend geworden, weil wir natürlich zwei ziemlich ausgewiesene Zeitzeugen da eingeladen haben und einen Kollegen aus unserer Forschungsabteilung. Der hat das damals nicht selber erlebt, aber der dann erforscht hat, was eigentlich die Stasi zu diesen Zeiten, zu diesen Wochen und Monaten getan hat. Wo es ihr an den Kragen ging, wo das Ende bevor stand, aber Bürger einfach gekommen sind und die Stasi auch daran gehindert haben, weiter Akten zu vernichten. Das wurde nämlich offenkundig. Und der 15. Januar ist für uns als Archiv, als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, ein wichtiges Datum. Das ist nämlich der Tag, an dem in Berlin, in der Ministeriums-Zentrale, Tausende von Menschen auf das Gelände vorgedrungen sind und damit so ein sichtbares Zeichen geschaffen haben, dass die Stasi wirklich am Ende ist. Und wir haben uns genau an diesem Ort, 30 Jahre später, 15. Januar 2020 getroffen und haben uns darüber ausgetauscht, wie das eigentlich angefangen hat mit diesen Besetzungen - in den Bezirksverwaltungen, im Land in der DDR, bis dann hin zu diesem Monat, sechs Wochen später in Berlin, am 15. Januar.
Maximilian Schönherr: Also Roger Engelman heißt der Wissenschaftler von dem gerade die Rede war. Der sagt nachher zwei Begriffe, die du vielleicht nochmal erklären könntest. HV A?
Dagmar Hovestädt: Die Hauptverwaltung A, gern auch als Aufklärung bezeichnet. Aufklärung das militärische Wort für die Spionage gegen das Ausland. Und eben Teil des Apparats, des Ministeriums für Staatssicherheit. Aber eine große Abteilung, fast 4.000 Mitarbeiter. HV A. Hauptverwaltung A.
Maximilian Schönherr: Und Abteilung XX/4?
Dagmar Hovestädt: Abteilung XX ist die Hauptabteilung XX, im Ministerium sind es immer Hauptabteilungen, in den Bezirksverwaltungen nur Abteilungen. Die XX, also römisch 20, Doppel-X, war verantwortlich für den Staatsapparat, Kirche, Kultur und den so genannten politischen Untergrund. Also im Kern schon die Überwachung der eigenen Bürger in diesen gesellschaftlichen Bereichen. Schrägstrich 4 hieß Abteilung 4, und die insbesondere für Kirchen zuständig.
Maximilian Schönherr: Das ist viel früher als ich dachte, am 4. Dezember. Wir reden jetzt gleich nämlich vom 4. Dezember 1989. Das ist drei Wochen bevor in Berlin dann die Stasi- -
Dagmar Hovestädt: Sechs Wochen.
Maximilian Schönherr: Sechs Wochen sogar!
Dagmar Hovestädt: 4. Dezember in Erfurt und am 15. Januar dann erst in Berlin.
Maximilian Schönherr: Und ich habe mal nachgeguckt, wann ist eigentlich das DDR-System so richtig gefallen. Also, die Mauer war seit 9.November 1989 offen. Das heißt, die war schon einen Monat offen als die Frauen dann, wahrscheinlich auch gestärkt dadurch, ein bisschen selbstbewusster dahin gingen. Weil vorher - ich habe selber Verwandte in der DDR gehabt - das war ein absolutes Tabu-Haus in Elsterwerda. Da konnte man nicht in die Nähe hingehen. Und man wusste, wenn man da rein geht kann alles Mögliche passieren, womit man nicht rechnen kann. Und Mielke und Honecker waren seit dem 5. Dezember, also einen Tag nach dem, was wir jetzt hören, schon in Hausarrest. Das heißt, Mielke war schon aus dem Verkehr gezogen. Und das war die politische Gemengelage. Ich weiß aber nicht, ob die Protagonistin, die jetzt gleich sprechen wird, das damals schon wusste. Das wird nicht angesprochen.
Dagmar Hovestädt: Also, wir haben die beiden Zeitzeugen auf dem Podium. Das sind Gabriele Stötzer, Jahrgang 1953, eine sehr bekannte Künstlerin und auch zu DDR-Zeiten schon Künstlerin. Und auch eine Frau, die in den 80er Jahren ein Jahr in Stasi-Haft verbracht hat. Die also ein sehr konkrete persönliche Erfahrung mit der Stasi hatte und der es darum auch ein ganz dringendes persönliches Anliegen war, zusammen mit den anderen Frauen. Das muss man wirklich sagen, denn die erste Besetzung am frühen Morgen, in Erfurt - das waren fünf Frauen, die das gewagt haben.
Maximilian Schönherr: Nicht zu viel verraten!
Dagmar Hovestädt: Na, okay alles klar. [lacht]. Aber, jedenfalls kommt sie mit einer ganz persönlichen Erfahrung da ran.
Und der zweite Zeitzeuge ist Stephan Konopatzky, der arbeitet bis heute hier bei uns im Archiv. Der ist Jahrgang 1963, war also ein sehr junger Mann. Er hat in der Nähe des Ministeriumskomplexes gewohnt, zufälligerweise, und hat das immer sehr beobachtet und war engagiert in der Opposition und in der kritischen Bewegung in der DDR. Und ist an jenem Abend, dem 15. Januar 1990, auch mit vor Ort gewesen. Aber er ist bei uns heute im Archiv zuständig für die maschinenlesbaren Daten, für das was die Stasi hinterlassen hat. Nicht mehr so viel, was mit Computern lesbar ist.
Und Roger Engelmann, Jahrgang '56, der Kollege aus unserer Forschungsabteilung, hat dann einfach mal 30 Jahre später nochmal eine Untersuchung mitgeleitet, in der man genau nachvollziehen wollte, was die Stasi eigentlich alles wirklich vernichtet hat. Was ist weggekommen und was ist noch da - und das thematisiert er auch.
Wir beginnen diese Veranstaltung natürlich mit der Zeitzeugin Gabriele Stötzer, die nämlich an jenem 4. Dezember 1989 sehr früh morgens in Erfurt die Bezirksverwaltung der Stasi betreten hat.
Gabriele Stötzer: In Erfurt war das so, da gehe ich mal ganz kurz zurück zum Jahr vor '89. Da haben sich nämlich die Frauengruppen in Erfurt immer regelmäßig getroffen, einmal im Monat und haben erklärt, was bei ihnen so diskutiert wurde. Es gab ganz viele Gruppen. Unter anderem auch unsere Künstlerinnengruppe, die seit '84 auch Performances aufgeführt hat. Sich mal gezeigt hat und dann wieder zurückgegangen ist, immer die Räume, die uns geöffnet wurden. Also wir haben in der Öffentlichkeit schon ein bisschen Aktivitäten entfaltet und konnten auch in dieser feindlichen Atmosphäre ein bisschen damit umgehen und haben das auch als Herausforderung gesehen. Wir waren auch jung. Wir haben also einfach gemacht und wollten leben.
Und dann war das so. An diesem Tag bildeten sich Gruppen heraus wie der Deutsche Demokratische Aufbruch. Und die kamen dann zu uns, zu den Frauen, und sagten: Wir brauchen ein paar Frauen. Worauf wir sagten: Wir sind keine Vorzeigefrauen, wir haben selber "Frauen für Veränderung" gegründet. Diese politische Gruppierung, die dann entstand, aus all diesen unterschiedlichen Interessen, die war dann auch politisch aktiv tätig, bei den Demos haben wir gesprochen. Und an dem Tag haben sich zwei aus der Gruppe zu mir begeben, das waren Kerstin Schön und Sabine Fabian. Und die hatten auch schon aus den Medien gehört, dass die Akten, obwohl die Demos waren, immer weiter verbrannt werden und die haben gesagt: Wir müssen heute die Stasi-Akten retten. Sie klingelten also bei mir an der Tür und sagten: Wir haben einen Plan. Wir werden heute die Staatssicherheit besetzen. Also, das ist erstmal ganz wichtig! Das Menschen "Ich", "heute" und "jetzt" sagen. Wir wollen, dass es friedlich ist.
Wir gehen zum Bürgermeister. Wir gehen zur SED Bezirksleitung. Wir gehen zur Staatsanwaltschaft und wir informieren die Presse. Und dann gehen wir in die Stasi rein.
Und zu mir sind sie gekommen, weil sie gedacht haben, die ist verrückt genug um mitzumachen. Was sie aber auch wussten ist, dass ich selber schon mal in der Stasi drin war als Gefangene. Ich habe wegen der Biermann Ausbürgerung im Gefängnis gesessen. Ein Jahr. Und wo die sagten: Wir gehen jetzt in die Stasi rein! Dann ist komischerweise imaginär vor meinem Auge dieses Licht wieder erschienen. Das Licht in der Untersuchungshaft. Das Tag und Nacht an- und ausgeht, wo man beobachtet wurde. Da dachte ich mir, die sind schon bei der richtigen Figur, ja. Ich war schon da drin, ich komm da heute rein. Ich hatte das plötzlich. Ich hatte so eine Gewissheit. Und mit dieser Gewissheit habe ich gesagt: Okay ihr habt einen Plan für Oben - ich war mehr basisdemokratisch - wir gehen jetzt zu den anderen Frauengruppen und holen von jeder Frauengruppe jemanden ab. Wir sind dann einmal zu Tely Büchner gegangen, von der Künstlerinnen-Gruppe, und zu Claudia Bogenhardt von den "Brennnesseln". Und so sind wir erstmal zu fünft. Und fünf war auch eine Faust, die Kraft hat.
Dann ist es so passiert, dass wir, als wir Tely abgeholt haben, noch ein bisschen Zeit hatten. Die musste sich ja anziehen. Tely war damals hochschwanger. Dann sind wir zu einer Frau, die ein Telefon hatte, Frau Falke - Probstin Falke sozusagen. Da haben wir schon mit dem Staatsanwalt telefoniert, der Zeitung telefoniert und auch alle kirchlichen Einrichtungen angerufen. Und dann sind wir los, haben uns in unseren Trabant gesetzt und sind zum Bürgermeister gefahren.
Und natürlich die Sekretärin! Es war Montagvormittag, Montag früh noch, um 8 Uhr, und wir wussten überall sind die Sitzungen. Und dann sind wir einfach reingestürmt, an dieser Sekretärin - die noch eine alte Frauenrolle hatte, nämlich von den Männern alles abzuhalten - vorbei. Wir sind einfach rein, haben uns hingestellt und dann haben wir wie so ein Mantra immer wieder erzählt:
Wir besetzen heute die Staatssicherheit. Überlegen Sie sich, was Sie beitragen wollen und wir wollen, dass es friedlich ist.
Und dann haben wir ein bisschen geflunkert und gesagt: Die ganze Erfurter Bevölkerung steht hinter uns. Ja. Es war aber auch inzwischen so, dass die Leute, die angerufen wurden, mittlerweile wieder andere Leute anriefen. Alle Freunde. Und das in der Zeit, wo wir beim Bürgermeister waren. Der hat dann die Sitzung geschlossen.
Wir haben uns dann getrennt. Eine ist in die Großbetriebe gefahren. Die Sabine Fabian, Tely Büchner und Kerstin Schön, die sind dann zur SED-Bezirksleitung gegangen und ich bin mit Claudia erstmal zu dem Abteilungsleiter Inneres gegangen und haben mit dem geredet. Und da hat der immer schon den Schwarz, Generalmajor Schwarz von der Staatssicherheit angerufen. Die hatten ja schon die Telefonnummer von dem, ne.
Also, der kriegte einen Anruf von seinem Abteilungsleiter Inneres: Da kämen heute Leute hinein, die wollen das es friedlich ist.
Und dann hat er gesagt: Aha, aha. Also wenn sie reingehen, werden sie verhaftet.
Das war natürlich schon immer besser als: Dann werden sie erschossen. Ja. Da dachte ich: Okay, ich war ja schon mal drin - dann lassen wir uns eben alle verhaften. Ich meine, wie viele Zellen hatten die? Und wir haben mit hunderten Menschen gerechnet. Dann hätten wir eben Bambule gemacht in U-Haftzelle. Wäre ja mal was anderes gewesen! Dann haben wir so ganz locker gesagt: Na ja, dann lassen wir uns verhaften.
Wir beide haben uns dann nochmal getrennt. Claudia ist im Bezirk in die Staatssicherheit, in der Straße der Einheit gegangen und ich bin zum Staatsanwalt. Denn was haben wir gemacht? Damit wir nicht kriminalisiert werden, haben wir die Staatssicherheit angezeigt und gesagt: Ihr vernichtet Volkseigentum. Unser Eigentum - ihr seid kriminell.
Und da sind wir dann zum Staatsanwalt gegangen. Ich kannte den ja, weil ich mich nach dem Knast immer wieder bei der Staatsanwaltschaft melden musste. Deswegen wusste ich wo die sitzen, wie die Adresse ist und war dann dort. Und er sagte natürlich: Wir sind überhaupt nicht dafür zuständig, für die Staatssicherheit ist das nur der Militärstaatsanwalt. Dann hat er in unserem Beisein angerufen - ich hatte noch jemanden anderes mit hingenommen, die außerhalb dieser Gruppe waren - und da hat er gesagt: Ja der kommt von Berlin in 3 1/2 Stunden. Das war so die Entfernung damals, heute dauert das ja kürzer.
Da haben wir gesagt: So viel Zeit haben wir nicht. Wir gehen jetzt gleich mit Ihnen rein! Sie kommen mit! Denn wir brauchten ja einen Staatsanwalt, damit das legalisiert war und wir wollten da schon praktisch die Räume versiegeln. Also hat er sein Zeug mitgenommen und als wir dort waren, wie ich dann hinkam, war diese ganze Staatssicherheit von Erfurt schon umstellt. Es waren Leute da. Es waren schon Leute von der Kirche da, die Tee ausschenkten und so weiter. Es war kalt.
Dagmar Hovestädt: Also zwischen 8 Uhr und - dann sind wir jetzt ungefähr bei?
Gabriele Stötzer: So ungefähr bei 9 / 10 Uhr, eher 10 Uhr.
Dagmar Hovestädt: Zwei Stunden!? Hunderte von Leuten. Sieben verschiedene Stationen. Und den Staatsanwalt dabei!
Gabriele Stötzer: Ja, sagen wir mal 10 / 11 Uhr, ja. Und als ich dann kam, waren aber schon zehn Leute drin. Die waren als erste reingenommen worden, wir haben auch nochmal in den Akten gelesen, zur Enstpannung dieser Sache. Sie wollten uns ablenken und relativieren und Kompromisse machen - also haben sie erstmal zehn Leute reingelassen.
Ich habe auch mal mit einem IM gesprochen, der hat zu mir gesagt, den haben hat die Stasi angerufen: Du musst unbedingt kommen! Der war dann unter diesen zehn Leuten drin und hatte gesagt, das waren fünf von der Bürgerbewegung und fünf von uns. Müsst ihr euch mal vorstellen, ne. Also, wie das auch arrangiert war! Wie die Staatssicherheit versucht hat sich zu retten. Aber Gott sei Dank war Frau Falke mit drin bei diesen zehn Leuten und wo dann Major Schwarz sagte: Sie müssen Ihre Leute zurückrufen, dass hier nichts passiert! So können wir nicht arbeiten! Da hat Frau Falke gesagt: Na, dafür sind wir doch da! Damit Sie mit Ihrer Arbeit aufhören! Und das war aber eine Frau. Die anderen haben das alles relativiert. Und die nächste Sache war dann, dass Tely und Kerstin Schön - die sind dann von der SED-Bezirksleitung zurückgekommen. [ins Publikum gewandt] Willst du mal vielleicht erzählen?
Dagmar Hovestädt: Es ist schon okay.
Gabriele Stötzer: Na komm, nur ganz kurz.
Dagmar Hovestädt: Es ist schon okay.
Gabi Stötzer: Na ja, also die sind dan rein. Du musst dir also vorstellen: eine Frau, die schwanger ist und eine andere Frau, die das initiiert hat, die laufen dann zusammen zwischen bewaffneten jungen Männern, die selber Angst in den Augen haben: Was machen wir jetzt? Und was machen die jetzt? Die haben die Leute, die Frauen einfach durchlaufen lassen. Und Tely, du hast gesagt, du hast dann so gewunken hinterher und dann kamen die ganzen Massen rein.
Und dann war erstmal die Stasi besetzt. Und das Wunderbare war aber in Erfurt, dass wir nicht mehr aus der Stasi rausgegangen sind. Und das war deswegen eine echte Besetzung und wir haben diese Plätze nicht mehr geräumt. Wir haben an dem Tag noch die ganzen Stasi-Leute, die haben sich alle zugeschlossen und dann wollten die aber nach Hause, und dann saßen von uns schon Leute am Ausgang und dann sie mussten ihre Ausweise abgeben. Und dann haben wir denen gesagt: So, Sie sind jetzt gekündigt.
[unverständlicher Zwischenruf, Applaus und Gelächter im Publikum]
Dagmar Hovestädt: [lacht kurz] Der Applaus ist verdient, auch 30 Jahre später noch. Das heißt eigentlich war die Strategie ja zu sagen: Wenn die Staatsanwaltschaft von selbst nicht einschreitet, wir sind jetzt Bürger, wir beobachten das. Wir machen uns Sorgen, die vernichten diese Akten. Wir versuchen das mit den rechtlichen Mitteln die da sind zu unterbinden und daraus wurde aber, auch weil sich viele Leute getraut haben und für viele Leute wichtig wurde, eine Besetzung und eine Entmachtung der Stasi.
Gabriele Stötzer: Ja, ich denke auch, dass das es eine sehr intelligente Idee war, die - sagen wir mal "gemeinschaftlich produzierten Akten". Also wir waren die Aktiven, die diese Akten inhaltlich gefüllt haben und die Stasi, die das ordentlich aufgeschrieben hat. Also unsere gemeinschaftliche Arbeit zwischen Objekten und Objektsammlern, dass das vernichtet werden sollte. Und wir haben dann gesagt: Wir kommen rein und retten unsere Akten vor euch, weil das unser Volkseigentum ist. Ich mein, das Volk war ja sowieso enteignet und hatte überhaupt kein Eigentum und plöztzlich sagt das Volk: Das ist mein Eigentum, was ihr über uns gesammelt habt. Und das hat die irgendwie verblüfft.
Ich mein, wenn wir frühs hingegangen wären und hätten gesagt: Hallo, wir wollen euch absetzen, wir haben genug von der Stasi, die Grenze ist jetzt offen. Es war ja wirklich so: die Volkspolizei, das Militär und die Staatssicherheit waren noch voll bewaffnet, ja. Es gab ganz viele Gewehre und Maschinenpistolen. Ich weiß gerade nicht wie die heißen, ich hab das alles mal aufgeschrieben. Es waren über 132 Einsatzplätze für Maschinenpistolen in Erfurt geplant. Mindestens, ja. Es hätten 250 Stasi-Mitarbeiter geschossen, wenn es dazu dann gekommen wäre. Die Bewaffnung war da, aber wahrscheinlich waren sie durch den Charme unserer Frauen alle entwaffnet. [Hintergrundlachen]
Jedenfalls sind wir dann rein und haben ganz klar gesagt was wir wollten. Und ich muss da auch immer wieder sagen: Wenn Frauen was vorhaben, die ziehen das einfach durch. Das war an dem Tag auch so! Mehr oder minder wurde oft gefragt: Hattet ihr Angst? Da hatten wir eigentlich keine Zeit für, wir hatten ja einen Plan. Wir wollten ja was machen. Wir wollten ja was erreichen! Und das intelligente und gute war einfach, die Staatssicherheit mit sich selbst zu überlisten. Wo wir dann einmal drinnen waren, waren sie entmachtet.
Dagmar Hovestädt: Genau!
Gabriele Stötzer: Weil wir nicht gegangen sind.
Dagmar Hovestädt: Das war ja auch ein Tabubruch! Da gehört keiner rein, der da nicht hingehört und den wir nicht vorher verhaftet haben. Wie sie sich einfach die Freiheit nehmen, unseren Platz hier zu beanspruchen, dafür gab es keine Strategie. Weil: die Angst war ja weg!
Gabriele Stötzer: Was ich noch sagen muss ist: Die Staatssicherheit, die haben auch von Anfang an gelogen.
Wir haben gesagt hier werden Akten verbrannt - da hieß es dann: Wieso? Wir haben ja überhaupt keinen Ofen, wir haben doch Fernheizung. Das gab es ganz wenig in der DDR. Und ehe wir dann da unten waren im Keller, bis wir runter kamen, wo dann wirklich ein Ofen war, hat das Stunden gedauert.
Oder: Haben Sie Computer? - Nein, wir sind nicht so modern.
Und vernichten Sie Akten? - Nein, nein, nein. Und dann sind wir in Räume gekommen, da konnte man durchlaufen wie durch Blätter im Herbst. Da lag alles zerstückelt und zerhäckselt auf dem Fußboden. Das ist so ein Moment, an den ich mich erinnere. Diese Vernichtung. Oder wenn du in einen Raum kamst. Kamste endlich rein, machst die Türen auf - alles leer! Sie hatten alles weggeräumt.
Und so sind wir den ganzen Tag immer wieder fehlgeleitet worden. Deswegen mussten wir einfach da bleiben!
Dagmar Hovestädt: Ja.
Gabriele Stötzer: Ich hab immer mit versiegelt - und am anderen Tag waren die Siegel doch wieder aufgerissen.
Und das muss ich auch sagen, ich bin immer rumgerannt und hab gesagt: Ich will meine Stasi-Akte sehen! Weil ich wusste, es gab eine. Die habe ich aber nicht gesehen, weil wir etwas gemacht haben. Wir mussten ja die Akten, die dort in Säcken überall rumstanden, sichern und haben die am selben Tag noch in die U-Haftzellen reingelegt. Also abends waren dann keine Menschen verhaftet sondern die Stasi-Akten.
Dagmar Hovestädt: Das heißt Erfurt beginnt sehr früh und deswegen ist Erfurt auch die allererste Besetzung, aber an diesem Tag werden noch zwei weitere Bezirksverwaltungen besetzt: Leipzig und Rostock.
Gabriele Stötzer: Und Gotha, die haben es auch super gemacht!
Dagmar Hovestädt: Und Gotha, genau. Und in den nächsten Tagen sind eigentlich - bis auf Berlin und Gera, wo das offiziell richtig erst in Hand des Bürgerkomitees am 6. Januar '90 war - sind die Bezirksverwaltung schon ziemlich unter Kontrolle der Bürger, in denen sich auch Bürgerkomitees formierten.
In Berlin - an diesem Ort wo wir heute sind, vor 30 Jahren - wird 6 Wochen später erst das Gelände, die Ministeriumszentrale besetzt oder erstürmt. Darüber können wir gleich noch reden, was eigentlich das richtige Wort dafür ist. Und zu dem Zeitpunkt sind schon ein paar andere Dinge passiert, weswegen diese Besetzung sicherlich auch, wenn man sie exakt beschreiben möchte, anders genannt werden kann.
Stephan Konopatzky war an jenem Abend mit dabei auf diesem Gelände und ist im Grunde genommen der Aufarbeitung treu geblieben, weil er bis heute beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen arbeitet und hier sich vor allen Dingen damit beschäftigt hat, was die elektronischen Datenträger der Stasi an Informationen beinhalten.
Aber historisch an diesen Abend zurück erinnert: Wie war das in der Situation selber? War das eine Erstürmung? War es ähnlich wie in Erfurt, ein Plan mit dem man hier versuchen wollte sich die Macht zurückzuholen? Über die Akten? Und der Stasi zu sagen, dem Amt für Nationale Sicherheit zu sagen: Jetzt ist Schluss.
Stephan Konopatzky: Ja, ich will mit meiner ganz persönlichen Geschichte - natürlich die Versuchung war groß, sich vorher nochmal alles anzulesen, wie die ganzen komplizierten Geschichten waren. Das habe ich schnell aufgegeben, weil es glaube ich keinen Sinn macht und ich hier als Zeitzeuge auftrete und hier mit dem, was ich selbst erlebt habe, stehe.
Erstmal möchte ich Gabriele Stötzer nochmal Danke sagen für diese quasi heldenhafte Geschichte, die natürlich weit über das hinausgeht, was ich jetzt sozusagen zu bieten habe für den 15. Januar. Weil ich sozusagen tatsächlich nur ein Beteiligter dieser Demonstration war, die hier stattgefunden hat.
Allerdings möchte ich schon sagen, dass ich eine lange Vorgeschichte hatte was die Stasi angeht. Die begann für mich in den frühen 80er Jahren. Auch mit direkter Konfrontation mit Berufsverbot, Festnahmen und so weiter. Also ich war schon ein geprägtes Kind und hatte auch meinen Grund, warum ich hier war. Es war nicht so, dass ich jetzt zufällig hier vorbei kam.
Eine Geschichte vielleicht auch persönlich: Ich habe ab 1985, glaube ich, tatsächlich in der Normannenstraße gewohnt. Ich bin früh Vater geworden und wir haben Wohnungszuweisung hier eine Wohnung bekommen. Natürlich hat mich auch schon vorher, aber dann spätestens, diese gigantische Größe dieses Geländes immer fasziniert. Und ich habe schon in Ost-Zeiten dann mit Freunden, auch aus dem Westen, hier dieses Gelände umrundet. Habe sozusagen Führung außen gemacht, um zu zeigen was hier los war. Ich habe Fotos gemacht von der Kirche gegenüber vom Gelände. Also ich hatte schon lange eine Bindung zu diesem und dann später auch in den 80er Jahren Verbindungen zur oppositionellen Gruppen und Unterstützung.
Das war meine Motivation hierher zu kommen, nicht weil ich sozusagen zufällig dabei gewesen wäre.
Dagmar Hovestädt: Also nicht weil es ein Abendspaziergang gewesen war. Aber das Gelände war ja abgesperrt, das war ja auch hier ein Sperrbezirk. Man konnte ja nicht einfach wie heute allein entlang laufen.
Stephan Konopatzky: Nee, aber irgendwann war der Sperrbezirk ja zu Ende und da konnte man schon rumlaufen. Das hat ja gerade die Größe dieses ganzen Komplexes gezeigt: Wenn ich hier die Ruschestraße bis zum Ende hoch laufe, dann hinten in der Bornitzstraße, heißt sie glaube ich, dann die nächste Möglichkeit habe und da ist man schon fast einen Kilometer hoch gelaufen. Und das zu zeigen! Diese Dimension, die Zäune, die Kameras - das war immer schon für jeden und für mich auch immer wieder imposant das hier zu erleben.
Und natürlich war es dann im Herbst '89 die Frage: Ja wann passiert jetzt hier was? Ich war auch schon vor dem 15. Januar mehrfach hier, hab über den Zaun mit Dzierzynski-Leuten gesprochen. Und es war eine ganz seltsame Situation. Natürlich war es alles vollkommen anders als es noch eine Woche vorher gewesen wäre. Die waren relativ locker und wir haben sozusagen rumgescherzt und gesagt: Na lange wird's hier nicht mehr gehen.
Aber ich war jetzt nicht in diesen Strukturen, dass ich das selbst organisiert habe. Das hat dann für Berlin dann eben das "Neue Forum", Reinhard Schult, Ingrid Köppe in die Hand genommen und diesen Aufruf gestartet.
Dagmar Hovestädt: Und es gab ja den Runden Tisch, die AG Sicherheit, und es gab da durchaus Bewegung in Richtung der Abschaffung des Amts für Nationale Sicherheit. Die Stasi hat sich ja mehrfach versucht zu häuten und weiterzumachen. Sie sollte ja in einer demokartisierten DDR ein normaler Verfassungsschutz und Nachrichtendienst werden. Und diese Vorstellung, dass es irgendwie schon weiter geht, die war am 12. Januar eigentlich zerbrochen.
Stephan Konopatzky: Ja, spätestens. Vielleicht auch nochmal zum Rückblick. Am 7. Dezember gab es auch hier auf dem Gelände schon eine erste Begehung von Externen, auch von Oppositionellen, die daran beteiligt waren. Das war letztendlich noch eine gelungene Veranstaltung der Stasi, würde man jetzt im Rückblick sagen können. Sie wurde ein bisschen medial aufbereitet auch im DDR-Fernsehen gebracht und ist dann ein bisschen im Sande verlaufen, tatsächlich ja.
Vielleicht zur Verteidigung der Berliner darf nicht vergessen werden: In Berlin ist die Mauer am 9. November gefallen. Die Berliner waren auch sehr beschäftigt, auch damit. Und natürlich, was vorhin auch schon jemand sagte, die ganzen neuen politischen Gruppen und irgendwie musste man sich die Stasi dann wieder ins Gedächtnis rufen, dass das alles noch hier irgendwie weiterläuft.
Dagmar Hovestädt: Also in dem Sinne war es jetzt nicht so eine strategisch geplante, auch durch die Nachrichtenlage bestimmte Entscheidung zu sagen: Wir müssen die am Vernichten der Akten hindern und wir sind jetzt die Bürger, wir haben jetzt das Sagen. Sondern es war ja an dem Abend, für den 15. Januar um 17 Uhr, zu einer Demonstration aufgerufen worden. Und das eigentliche Ziel war doch, sich zu versammeln und den Eingang zuzumauern, damit die Stasi sich mit sich selbst beschäftigen kann.
Stephan Konopatzky: Ja, das war das Rhetorische, der Text auf diesen Flugblättern, aber was die 20.000 Leute - wie viel es waren - bewegt hat: Die wollten einfach hier her, die wollten es einfach sehen, die wollten einfach da rein. Natürlich haben manche Steine mitgebracht zum Zumauerern. Ich hatte eine Spraydose dabei. Es gab alles Mögliche. Aber die Leute wollten her, das war unerheblich, was auf diesem Flugblatt stand. Es war einfach der Termin, der war wichtig und die Leute sind gekommen - zuhauf. Das war das Entscheidende. Da war es auch nicht wichtig, dass schon seit Mittag irgendwie Leute vom Bürgerkomitee in diesem Gelände waren. Es wäre sogar ganz schrecklich gewesen, wenn wir wieder gegangen wären. Glaube ich, ja. Das wäre unerklärbar gewesen, wenn die Leute gesagt hätten: Okay, jetzt ist das Bürgerkomitee da, wir drehen mal wieder um. Das wäre für das Ende der Stasi etwas zu wenig gewesen.
Dagmar Hovestädt: Vielleicht zur Klarstellung, das waren Vertreter von Bürgerkomitees aus den Bezirken. In Berlin gab's ja noch kein Bürgerkomitee, weil die Zentrale nach wie vor nicht in dem Sinne erkennbar in Bürgerhand war.
Stephan Konopatzky: Richtig, ja.
Dagmar Hovestädt: Aber das waren eben auch die Bürgerkomitees die sich in Erfurt und anderen Bezirksstädten gegründet haben, die irgendwann gesagt haben: In Berlin tut sich gar nichts, wir müssen da mal ein bisschen Druck machen.Haben Sie das mitbekommen oder war das für Sie dann eigentlich eher nur eine Erfurter Geschichte? Also, warum sich die Bezirkskomitees eigentlich auch einmal mit Berlin beschäftigt haben?
Gabriele Stötzer: Ich meine, wenn man einmal so eine Stasi besetzt hat, hat man plötzlich auch Verantwortung für den Raum. Wir haben uns dann ständig da drinnen getroffen, wir hatten das Bürgerkomitee am gleichen Abend noch gegründet.
Und dann haben wir ja erstmals mitgekriegt wie die ganze Stasi funktioniert hat. Mit diesen konspirativen Wohnungen - also wir haben glaube ich am ersten Tag, gleich am Tag wo wir die Stasi besetzt haben, schon 75 konspirative Wohnungen festgestellt. Nur allein in Erfurt. Und das bei dieser ständigen Wohnungsnot in der DDR! Und es sind dann auch jeden Tag immer viel mehr geworden und dann haben wir gemerkt, es gibt viele Außenstände. Also es gibt da ein Zentrum - damals war es ja noch anders mit der Übermittlung von Funk, gab es damals ja noch alles - also wir haben immer noch Außenstände besetzt. Und dann sind wir auch nachts noch vollkommen hektisch zum Flughafen in Erfurt gefahren, weil wir gehört haben, da wären irgendwelche Akten, die werden nach Rumänien ausgeflogen. Da haben wir den Flugplatz dann auch noch eingenommen an dem Tag und uns hingesetzt, damit da auch nicht weggeflogen wird.
Eine Freundin von uns, die Sabine, ist ja an dem gleichen Vormittag noch zum - wie hieß denn das damals? Diejenigen, die den Müll einsammelten in Erfurt. Da haben sich dann die ersten Müllautos um die Stasi gestellt, damit kein Auto mehr raus und rein kam, ja. Und dann fuhren die Müllautos schon, während sie noch drinnen war. Sie ist ganz alleine in die Montagssitzung von den Großbetrieben reingegangen und hat gesagt: Wir besetzen die Stasi. Überlegen Sie sich, was Sie beitragen können. Und dann ist es teilweise passiert! Sie ist rausgegangen und dachte: Die verhaften mich! Aber nein, die sind an den Funk gegangen, beispielsweise die Mikroelektronik in Erfurt und haben gesagt: Hallo liebe Kollegen, die Frauen besetzen heute die Stasi, wenn Sie möchten, können Sie heute Urlaub nehmen.
Ne? Und so ist es passiert. Das war eine revolutionäre Situation. Und die war einfach da. Dann sind die Leute einfach gegangen und haben sich an der Besetzung beteiligt. Und ich finde auch gut was Sie sagen: Die Masse drückt. Die Masse drückt! Und das wir die Masse geschafft haben und wir nicht nur wir alleine geblieben sind, dass ist das, was Kraft gemacht hat an dem Tag.
Dagmar Hovestädt: An dem Abend in Berlin ist die Masse, die Tausende von Menschen, die gekommen sind - richtig gezählt hat das glaube ich keiner - vor allen Dingen aber in ein Gebäude gegangen, dass für die geheimpolizeiliche Arbeit nicht unwichtig war, aber das war das Versorgungsgebäude. Da hat man gegessen, da gab es eine Bäckerei und Metzgerei und alles Mögliche.
Warst du in diesem Gebäude drin und hast das richtig da mit gesehen was da passiert ist?
Stephan Konopatzky: Nein, ich war nicht mit drin, weil ich mit meinem Kind nicht da rein wollte.
Dagmar Hovestädt: Deine Tochter war an dem Abend mit dabei. Mit 5 Jahren.
Stephan Konopatzky: Genau. Ich bin dann später nochmal alleine dort gewesen, da war ich dann auf dem Gelände. Nicht beim Haus 18 sondern tatsächlich woanders auch. Ich erinnerte mich dort alleine gewesen zu sein, wurde aber vorhin eines besseren belehrt, dass auch andere mit mir zusammen dort waren und ich auch viel Angst hatte, wurde mir sagt. [lacht] Aber wir waren zu wenigen Leuten nachher auch vor anderen Gebäuden, da waren wir total alleine.
Die meisten Leute waren tatsächlich vor diesem Haus 18. Das da nun so ein Versorgungsgebäude war, das konnten die Demonstranten erstmal nicht wissen! Und es ist prinzipiell niemand vorzuhalten, dass sie dann dahin gingen. Das Gelände ist riesig, man hätte niemals - 50 große Gebäude umfasst das ganze Gelände ja - und dann sind sie alle dahin. Das war sicherlich zu vermuten, würde ich sagen, dass das eine gelenkte Sache war von Stasi-Leuten. Die Leute zunächst dahin lenkten, das war sicherlich eine Leichtigkeit, und dann die sich da austoben lassen.
Dagmar Hovestädt: An dem Abend oder in der Nacht formiert sich aber auch in Berlin ein Bürgerkomitee, dass eben die Kontrolle über den Zugang zu den Akten und über die Sicherung der Akten mit entscheiden will. Wie ist das Zustande gekommen?
Stephan Konopatzky: Das weiß ich nicht ich nicht. Ich wollte mitmachen. Am 15. oder 16., auch das weiß ich leider nicht mehr genau, war ich dann in diesen Räumen, die sind dann in den ehemaligen Empfangsräumen an der Wache gewesen, von dem Bürgerkomitee. Da war die Situation leider so, dass mir gesagt wurde, dass alle Gruppen überfüllt sind und kein Platz mehr wäre für mich. Ich könnte mich aber auf eine Warteliste setzen lassen und schonmal mit der Volkspolizei, in Sicherheitspartnerschaft, Wache stehen. Das habe ich auch zwei Nächte gemacht, aber dann was mir zu doof sozusagen - das war mir zu wenig. Und dann kurz danach habe ich eine andere Möglichkeit gefunden, für den Runden Tisch an der Stasiauflösung teilzunehmen. Insofern war ich zwar nachher auch formal im Bürgerkomitee, aber eigentlich für den Runden Tisch an der Auflösung beteiligt.
Dagmar Hovestädt: Also die Bürgerkomitees in Berlin, in den Bezirken, fangen an sozusagen intensiver zu arbeiten und verhandeln den Fortgang der Dinge, ja?
Gabriele Stötzer: Ich möchte sagen: An diesem Tag haben sich nicht nur die Bürgerkomitees gebildet, sondern in Erfurt auch eine Bürgerwache. Wir haben das also besetzt und es gab Bücher, da konnte man sich eintragen. Bei der Stasi war natürlich auch die Stasi U-Haft in Erfurt. Und das war das, was mich emotional unwahrscheinlich auch in der Zeit getragen hat. Dass ganz viele Leute, als sie gehört haben: Was, hier gibt es eine Bürgerwache in Erfut? Da sind ganz viele Leute aus Kanada und überall angereist, weil sie es nicht glauben wollten, dass die Stasi jetzt enteignet ist von ihren eigenen Machtmitteln. Und die haben dann dort gesessen und die Stasi-Akten bewacht. Ja, da konnte man sich so für zwei Stunden eintragen und haben dann schon angefangen, ihre Geschichten zu erzählen und zu erleben und haben geweint und haben sich miteinander selber das nochmal geheilt, was da unheilbar gewachsen war. Diese Chimäre, die uns jede Hoffnung und jedes Vertrauen geraubt hat, und jede Freiheit.
Und diese Bürgerwache finde ich auch noch sehr wichtig, dass die wie so eine Art Erwachen war. Dass sie wirklich nach Erfurt gekommen sind und sich hingesetzt haben um zu glauben: Es ist wirklich wahr. Also diese Bürgernähe, diese Nähe, diese Menschlichkeit, die sich da angefangen hat zu entwickeln. Und sich selbst wahrzunehmen und zu beachten und ja, auch wichtig zu sein. Das ist auch mit diesen Bürger während der Stasi-Besetzung passiert, dass wir wieder Individuen geworden sind.
Dagmar Hovestädt: Und dass man sich darüber austauschen konnte und darüber sprechen konnte und sich vergewissern konnte.
[mysteriöse Musik] Sprecher: Sie hören:Sprecherin: "111km Akten –
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Wir hören den Mitschnitt einer Veranstaltung vom 15. Januar 2020.
[mysteriöse Musik]
Dagmar Hovestädt: Ich wollte damit aber ein bisschen noch weiterleiten zu dem, was dann nämlich eigentlich passiert. Die Bürgerkomitees haben dann zwar eine bedingte Kontrolle über die Unterlagen, aber die Stasi verschwindet ja nicht gleich. Es gibt dann einen politischen Prozess, der darüber verhandelt, wie es wirklich weitergeht. Und das bringt uns zum nächsten kleinen Einspieler, dem letzten für die erste Runde.
Das ist ein Beitrag aus der ARD-Sendung "Kontraste" vom 13. März 1990, behandelt also Dinge, die in den ersten zehn Tagen vorher dort passiert sind. Und Verhandlung und Beschlüsse, die an den Runden Tischen mit den damaligen staatlichen Organen auch so verabschiedet wurden.
Sprecher "Kontraste": Magnetplatten-Speicher aus dem zentralen Computer der Stasi. Darauf gespeichert: Die Daten von Millionen Bürgern. Kontraste ist Zeuge ihrer Vernichtung, letzten Freitag in Ost-Berlin.
Die elektronischen Datenträger enthielten Informationen über alle Mitarbeiter der Stasi, ihre Spitzel und ihre Opfer. Die Metallteile werden aufbereitet und später zu Löffeln oder Kochtöpfen umgeschmolzen. Aus dem Plastik der Datenträger sollen Einkaufsnetze werden.
Viele schriftliche Akten wurden vernichtet, welche weiß keiner. Vor allem in den Stasi-Bezirks- und Kreisämtern, aber auch in der Ost-Berliner Zentrale und ihren Außenabteilungen, bis auf den heutigen Tag.
Thomas Heise: Die Befehle sind schon gelaufen. Es ist also raus: Es wird nichts vernichtet. Du kommst hin und der Häcksler, also der die Akten vernichtet, der ist kochend warm - weil er gerade den Stecker rausgezogen hat. Und da sind wir zum Beispiel ganz offensichtlich verladen worden.
Sprecher "Kontraste" : Die Bürgerkomitees waren nach dem Sturm auf die Stasi Mitte Januar eigentlich gerade dazu angetreten, die Vernichtung von Akten zu verhindern. Doch die genaue Kontrolle ist kaum möglich. Wir selbst wurden bei unseren Dreharbeiten immer wieder Zeuge von unkontrollierten Aktentransporten. In diesem Fall wollten ehemalige Stasi-Mitarbeiter, die in großer Zahl noch auf dem Gelände sind, die Akten der Spionageabwehr alleine umladen, ohne Bürgerkomitee.
"Kontraste" liegt das Protokoll einer Beratung von Vertretern der DDR-Bürgerkomitees und den Beauftragten der Regierung Modrow vor, ein Drei-Stufen-Plan. Nach der Vernichtung elektronischer Daten sollen die Verzweigungen der Personaldateien beseitigt werden, um den Zugriff zu erschweren. Als dritte Stufe des Plans soll die vollständige Vernichtung des personengebundenen Materials auf entsprechenden Beschluss erfolgen.
Es gab schon eine Trend Abstimmung für diesen Plan.
Dagmar Hovestädt: Das ist der März 1990. 6 Wochen, knapp 2 Monate, nach der Erstürmung hier in Berlin. Und er bringt uns nun zu Roger Engelmann, ein Kollege aus der Forschungsabteilung - wartet schon geduldig - bringt uns zu dem dritten Punkt dieser ersten Runde. Nämlich: Die Vernichtung sollte eigentlich gestoppt werden. Sie geht aber weiter. Und wir reden eigentlich doch schon seit sehr langer Zeit immer wieder darüber, was ist eigentlich weg gekommen, bevor die Besetzung begann. Sowohl der Kreisdienststellen, der Bezirksverwaltungen und hier von Berlin. Und was ist danach auch noch alles weg gekommen und kann man das ins Verhältnis setzen zu dem, was heute noch da ist, zu den 111 Kilometer Akten, die wir heute haben. Dazu haben wir eigentlich in den letzten zwei / drei Jahren nochmal eine Untersuchung versucht zu machen. Und ich würde Roger Engelmann gerne bitten, mal eine ungefähre Einschätzung der Ergebnisse dieser Untersuchung vorzustellen.
Dr. Roger Engelmann: Wir haben hier eine Arbeitsgruppe gehabt, die das exemplarisch für verschiedene Schriftgutkategorien untersucht hat. Ich werde die Ergebnisse jetzt ganz super knapp zusammenfassen, weil wir schon sehr fortgeschritten sind.
Dagmar Hovestädt: Ja, genau.
Dr. Roger Engelmann: Es ist im Prinzip so, wir haben für die Bestände - ich muss nochmal vor der Klammer sagen, das ganze gilt nicht für die HV A-Unterlagen, nicht für die HV A-Karteien und nicht für sonstige elektronische Datenträger, die die HV A betreffen. Sondern nur für den sogenannten "Abwehrbereich" des MfS.
Und da haben wir im Bereich der Akten, die im Oktober bereits archiviert waren, also in den Archiven der Registratur Abteilung XII lagern, haben wir nur minimale Verluste. Wir wussten das immer schon, dass da sehr viel überliefert ist von diesen damals nicht mehr aktiven, registrierten Vorgängen. Also ich habe schwerpunktmäßig in der Forschungsabteilung über die 50er und 60er Jahre gearbeitet. Und meine Erfahrung war, dass ich praktisch nie ins Leere gegriffen habe. Immer wenn ich aus irgendwelchen anderen Quellen wusste, da müsste etwas sein, habe ich auch etwas gefunden. Also da haben wir wirklich extrem geringe Verluste. Das hat mich selbst erstaunt, wie gering die sind! Ich dachte im ersten Moment, ich habe mich verrechnet. Wir haben da Daten aus den Archivregistrierbüchern und aus den Revisionen abgeglichen.
Dagmar Hovestädt: Das was die Stasi selbst ins Archiv verfügt hat, hat sie auch in der revolutionären Zeit wirklich weitestgehend nicht angefasst?
Dr. Roger Engelmann: Das wurde kaum angefasst. Das geht soweit, dass - die Stasi hatte ja die Angewohnheit Vorgänge, vor allem von IM-Vorgängen die über sehr lange Zeit liefen, schonmal teilzuarchivieren, also die älteren Bände. Und selbst bei den Vorgängen wo die aktiven Teile dann im November / Dezember '89 vernichtet wurden, kassiert wurden, sind diese Teilablagen, die da schon länger im Archiv lagen, in der Regel überliefert. War auch ein Befund den ich sehr erstaunlich fand. In einem Fall hatte der zuständige operative Mitarbeiter die Abteilung XII sogar ersucht, dass mitzuvernichten und das ist nicht erfolgt. Also da hat die Stasi sich offenbar sehr schwer getan ihr eigenes Archiv, was da ordentlich im Archiv lag, zu vernichten.
Dagmar Hovestädt: Aber das, was auf den Schreibtischen der Mitarbeiter lag?
Dr. Roger Engelmann: Das, was auf den Schreibtischen und in den Panzerschränken der operativen Mitarbeiter lag, also die aktiven registrierten Vorgänge, da sieht es anders aus. Da haben wir so Quoten, die zwischen 8% und mehr als 20%, also fast schon 1/4 gehen, an Verlusten. Bei solchen Diensteinheiten wie der XX/4 sind die noch viel höher. Da haben wir das dann im Einzelnen untersucht. Es wurden allerdings auch da einzelne Akten nicht vernichtet sondern einfach archiviert, auch noch im Dezember '89. Es ist überhaupt erstaunlich, wie viel Akten in diesem Monat noch archiviert wurden. Das zeigt sich auch an der Gesamtzahl der im Jahre '89 archivierten Akten, die ist nämlich um 40 Prozent höher als in den Vorjahren. Also das ist auch ein etwas gegenläufiger Befund der erstaunt.
Die größten Verluste haben wir bei den sonstigen Unterlagen der Diensteinheiten, insbesondere bei den sogenannten Zentralen Materialablagen der verschiedenen operativen Diensteinheiten, insbesondere auf der Ebene der Kreisdienststellen. Das sind die Unterlagen, die gewissermaßen die flächendeckende Überwachung der DDR-Bevölkerung widerspiegeln. Werner Irmler, der Leiter der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS, hat im Dezember 1987 in einer Dienstversammlung gesagt, die Kreisdienststelle hätten schon 40 Prozent der DDR-Bevölkerung in diesen Zentralen Materialablagen erfasst. Und da haben wir die größten Verluste. Das ist das, was auch schon ab Anfang November prioritär vernichtet wurde, gerade auf der Ebene der Kreisdienststellen. Da gibt es etwa knapp 40 Prozent dieser Zentralen Materialablagen, die gar nicht überliefert sind oder nur in einem ganz geringfügigen Umfang.
Aber auch dort haben wir an anderer Stelle vollständige Überlieferungen. Also exemplarisch kann man auch diesen Bereich wissenschaftlich untersuchen. Für die persönliche Akteneinsicht sind natürlich diese Verluste auf dieser Ebene sehr einschneidend, weil gerade das Gros der Bürger dann eben keine Akte mehr hat, wenn diese Zentrale Materialablage fehlt.
Dagmar Hovestädt: Also, es gelingt der Stasi durchaus einiges beiseite zu schaffen. Vielleicht auch das politisch brisanteste, nämlich die flächendeckende Erfassung von Bürgern, die immer weiter ansteigen sollte, die auch durch elektronische Datenverarbeitung gestärkt werden konnte, da vieles beiseite zu bringen. Aber ihren eigentlichen jahrzehntelangen Informationsschatz gibt sie nicht wirklich preis. Da funktioniert auch offensichtlich eine innere Logik des Apparats.
Dr. Roger Engelmann: Ja, man muss vielleicht sagen es gibt ja auch ganz unterschiedliche Kriterien nach denen die Stasi vernichtet hat. Das sehen wir auch bei der Evaluierung der Akten, die rekonstruiert worden sind. Wir haben da ja nicht nur brisante Akten, sondern auch - ich sag es mal ganz salopp - auch eine Menge Ramsch dabei. Also Dinge, die die Stasi wahrscheinlich auch unter normalen Bedingungen kassiert hätte. Es verschränken sich da im Herbst '89 sehr viele verschiedene Vorgänge. Es werden Dinge vernichtet, die sowieso vernichtet worden wären. Das Verrückte ist, dass diese Vernichtung dieser Unterlagen dann die Schredderkapazitäten belegt hat und in gewisser Weise verhindert hat, dass brisante Sachen weggekommen sind. [lacht] Also so bürokratisch hat das MfS im November '89 noch funktioniert.
Und dieser Quellenschutz, also das Vernichten mit dem Ziel des Quellenschutzes, das wird erst im Laufe des November, eigentlich erst im Dezember wichtig und ist dann erst im Januar absolut dominant.
Dagmar Hovestädt: Weil es dann natürlich auch politisch klar wird, weil die ersten IM-Enthüllungen passieren und man merkt, dass die Bürgergewalt, die Macht der Bürger sozusagen stärker wird und der Apparat nicht mehr zu halten ist.
Dr.Roger Engelmann: Man muss auch daran erinnern: Die Stasi glaubte ja, bis ungefähr Ende November, dass sie in irgendeiner Form, in verkleinerter Form, überlebt. Und da schmeißt sie natürlich erst die Dinge weg, die sie meint nicht mehr zu brauchen. Und man kann an dem, was sie nicht wegschmiss, ablesen was sie alles meinte noch zu brauchen - das war erheblich.
Dagmar Hovestädt: Die Untersuchung dazu, die - wie Sie vielleicht auch mitbekommen - doch sehr detailspezifisch ist und wo man sich ein bisschen reindenken muss in den gesamten Apparat, was die Stasi eigentlich war, wie sie gearbeitet hat, die ist auf unserer Webseite nachzulesen, wenn man es ein bisschen genauer machen will. Man findet aber eigentlich, das ist ein Ergebnis der Studie, keine einfache Antwort darauf, ob die Stasi denn zwischen dem Sommer '89 und dem Sommer '90 eine Prozentzahl X an Unterlagen vernichtet hat. Das wird sich so leicht nicht beschreiben lassen. Es ist mehr da als man dachte. Es ist an anderen Stellen sehr viel weggekommen und es auch viel Redundanz in den Informationen drin, sodass man auch immer auf Umwegen zu Informationen kommen kann, die vielleicht im ersten Schwung vernichtet worden sind. Also es ist ein bisschen komplexer als ein einfaches Bild.
Ich versuche jetzt gerade so ganz langsam diese erste Runde zu Ende zu bringen, die also eine historische Betrachtung ist und ein bisschen daran erinnert. Ich wollte die beiden Zeitzeugen trotzdem noch mal fragen, auch in der Überleitung zu unserer nächsten kleinen Runde, ob damals im Dezember '89, im Januar '90 eine langfristige Strategie da war. Ob man sich damals schon dachte, das bleibt jetzt für drei, vier, fünf, sechs oder sieben Jahrzehnte und es wird unsere Kinder und deren Kinder noch beschäftigen. Dass wir in diese Akten gucken können, die wir in Erfurt damals mit fünf Frauen vor der weiteren Vernichtung versucht haben zu retten. War das schon ein Gedanke, der damals da war oder kommt der erst im Nachhinein wenn man 30 Jahre zurückschaut?
Gabriele Stötzer: Ich glaube der Urgedanke war, jedem seine Akte, also jeden Menschen sich selbst wieder zurückzugeben und das als Individualisierunsprozess oder Selbstfindungsprozess. Aber auch so eine gewisse Art von Wahrheit, der Wahrheit standzuhalten, dass man wusste - ist es der Nachbar oder... Also diese ganze zerrüttete System der Macht einer Diktatur aufzulösen in Klarheit. Und das ist eben das, was ich allen Leuten sagen kann: Fordert eure Stasi-Akte an, haltet dem Stand und ihr werdet merken, wie sich praktisch unsere innere Gewissheit wieder formiert. Ich glaube jeder Mensch sollte erstmal sich selber wieder zurückbekommen, das war unsere Idee. Also dieser Individualisierungsprozess, den wir Stück für Stück gemacht haben um uns selber wieder aufzubauen, denn es war eine sehr große Unsicherheit in uns allen. Ich glaube, es war erstmal wichtig eine Basisklarheit zu finden zwischen Freund und Feind. Oder: "Wie ist es eigentlich wirklich mit mir gelaufen?" Viele Leute waren auch von sich selber voll Zweifel. Das Aufzubauen war erstmal ein Individualisierungprozess bei uns und noch nicht in Generalisierung so über die Generation hinaus.
Dagmar Hovestädt: War dir das als Idee mit einem langfristigen Ziel verknüpft im Januar '90?
Stephan Konopatzky: Ja, ich glaube auch nicht, dass wir sozusagen wirklich langfristig diskutiert haben. Obwohl wir, glaube ich, alle gedacht haben oder uns bewusst waren, dass das was da gerade abläuft, eine sehr langfristige Wirkung und Bedeutung haben wird. Ich glaube nicht nicht dass jemand von uns - also ich auf jeden Fall nicht - gedacht hat, das hier ist nach eins, zwei Jahren vorbei. Und gerade wo wir 1990, als es so richtig los ging, die Dimensionen dann wirklich gemerkt haben, eben auch unsere Überforderung. Anhand der Größe dieses Apparats war klar, dass das eine "Never-ending-Story" ist - und das bis heute.
Und ich möchte euch noch zwei Sachen sagen: Mich hat immer interessiert, neben diesem Aspekt dieser persönlichen Befreiung der Informationen, der ja noch übrigens auch im Stasi-Unterlagen-Gesetz noch eine ganze Weile verankert war. Es war vorgesehen, dass jeder seine Akte vernichten kann. Ein Aspekt, den ich durchaus aus einer Perspektive ganz gut fand und finde auch. Also man bekommt das Zeug, was die sich irgendwie illegal über meine Person, meine Intimität oder sonst wie angeeignet haben und ich vernichte das jetzt einfach. Historisch ist es natürlich, mit allen Problemen die dann dranhingen - deren Missbrauch und solcher Sachen - dann auch letztendlich vielleicht nicht möglich und es hat sich ja dann so gezeigt, das Gesetz ist abgeschafft worden, dieser Paragraph 14.
Aber was mich sehr interessiert hat, wie funktioniert denn dieser Apparat? Wie sieht's denn darin aus? Wie sieht's denn hinter den Türen aus? Was machen die, wie machen die das eigentlich? Wie haben sie das geschafft uns sozusagen "stillzuhalten", in Anführungzeichen. Wie funktioniert denn so was? Wie sieht das denn hier in diesem Laden? Das fand ich eigentlich viel spannender. Die ganzen Abläufe, die Karteien, die Computer, die Geräte, die Wanzen, alles! Ich fand das total super spannend und ich finde es eigentlich heute noch spannend. Wie funktionierte dieser Orwell'sche Apparat? Das fand ich immer total interessant.
Dagmar Hovestädt: Da waren jetzt drei Jahrzehnte schon auch genug um ein bisschen mehr an Verständnis, Wissen und Fakten über das Innenleben herauszufinden, oder?
Stephan Konopatzky: Ja, das ist ein ganz langer Prozess, weil wie gesagt die Dimensionen riesig sind. Jetzt bei dem Vortrag von Herrn Engelmann kam es ja noch mal raus. Man muss sich dann auch die Details angucken, um zu verstehen. Man kann nicht einfach sagen: Die Akten, da ist ganz viel vernichtet worden. Es ist viel vernichtet worden, aber wir haben immerhin deutlich über 100 Kilometer Papier. Es ist ja auch eine Dimension, die man jetzt irgendwie- - Also was trauern wir eigentlich nach und was bedeutet das, dass irgendwie eine staatliche Stelle über mich etwas aufgeschrieben hat in meinem Leben. Auch diese Fragen finde ich alle ganz wichtig. Sie sind klar, wenn man sozusagen im Knast war. Dann ist es ziemlich klar. Aber die meisten von den Leuten, über die was aufgeschrieben wurde, waren eben nicht im Knast.
Und über diese ganzen Dimensionen, finde ich, müssen wir auch in der Diskussion nachdenken. Über das was das alles bedeutet, das ist eben alles sehr interessant.
Dagmar Hovestädt: Das war Stephan Konopatzky, damals einer der Besetzer am 15. Januar 1990 und bis heute Mitarbeiter hier im Stasi-Unterlagen-Archiv. Und Gabriele Stötzer, die zu den ersten Besetzern einer Stasi-Dienststelle überhaupt gehörte, am 4. Dezember 1989 in Erfurt. Und Roger Engelmann, der auch heute hier im Stasi-Unterlagen-Archiv in der Forschungsabteilung arbeitet.
Maximilian Schönherr: Und das ist Dagmar Hovestädt und ich bin Maximilian Schönherr. Und jeder Podcast endet bei uns mit einem O-Ton aus dem Ton-Archiv der Stasi-Unterlagen-Behörde. Und präsentiert wird das von der Dokumentarin, die in diesem Ton-Archiv arbeitet, Elke Steinbach.
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und als Dokumentarin kümmere ich mich um die Audio-Überlieferung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Heute hören wir einen Ausschnitt aus einer Kassette aus dem Bestand Leipzig. Das ist der Bestand, den ich als erstes erschlossen habe. Es ist die Kassette Nummer acht, das heißt, das ist eine der ersten Kassetten, die ich gehört habe.
In dem Fall ist der Ton relativ schlecht, aber man kann dem folgen. Ein Bewohner einer Wohnung kommt zu Hause an. Seine Mitbewohnerin schildert ihm, dass sie den Verdacht hat beschattet zu werden. Oder dass die Wohnung beobachtet wird. Und sie beschließen beide den Verdacht zu prüfen, indem die Bewohnerin das Haus verlässt und er beobachtet, was danach passiert. Es sind ungefähr zehn Minuten auf dem Band zu hören und wir hören jetzt einen Ausschnitt von drei bis vier Minuten.
[schnelles Tonspulen]
[Türglocke klingelt, eine Tür wird geöffnet und geschlossen, Schritte auf knarrenden Dielen]
Bewohnerin: Guck mal, der da im Fenster grad sitzt! Und der dort steht. [flüstert: Nicht so doll!] Komm!
Bewohner: Ja.
Bewohnerin: [flüsternd] Zwei weiß ich unten. [unverständlich] Die anderen stehen [unverständlich].
Bewohner: Da könnte ich ja auch rein gucken.
Bewohnerin: Ja.
Bewohner: Ah, das ist ja…
Bewohnerin: Mh.
Bewohner: Aber das keener [keiner] so lang sitzen bleibt, sitzen wird. So wie die!
Bewohnerin: Ja, eben.
Bewohner: Kathrin und jetzt dann wirds dunkel.
Bewohnerin: Oh Gott.
Bewohner: Kathrin, kieke mal!
Bewohnerin: Da guckt er! Guck mal, der hat 'nen roten Pullover an, ne?
Bewohner: Ja, ja.
Bewohnerin: Mh.
Bewohner: Mhmh.
Bewohnerin: Komisch. Weißt du, heute Nachmittag so gegen zwei hab ich für ein halbes Stündchen hier hinten auf der Bank gesessen.
Bewohner: Mhmh.
Bewohnerin: Und da is' mir ein Mann - jetzt hatte er die Jacke an, mit rotem Pullover und helle Hose; das war der vielleicht sogar – aufgefallen. Der lief hier 'n paar Mal hin und her. Hier wo die Bänke sind.
Bewohner: Mhmh.
Bewohnerin: Blieb dann hier, hinter den Bäumen im Gebüsch, so stehen und guckte so hier Richtung Haus. Da! Und da dacht ich noch! Den- - Da is' mir der schon aufgefallen. Da dacht ich: Na, der beobachtet da wohl was.
Bewohner: Jetzt woll'n wa – geh mal vorbei. Das is' das Erste.
Bewohnerin: Is' das- -
Bewohner: Du gehst dort vor dem Auto, gehst dort drüben vorbei.
Bewohnerin: Is' nämlich halb um zwei. [lacht leicht verzweifelt] Und wo komm ich zurück? Wieder dort? Am Auto vorbei?
Bewohner: Ja. Du machst so, als ob du um d'e [die] Ecke und da warteste zwee [zwei], drei Minuten. Dann kommste wieder so zurück.
Bewohnerin: Mhmh.
Bewohner: Und ich beobachte das mal einfach.
Bewohnerin: Ja, es is schon sehr dunkel. Meinste denn [unverständlich]?
Bewohner: Ja, ich seh hier. Kleene [kleine] [unverständlich] und die [unverständlich] ick ooch [ich auch].
Bewohnerin: Mhmh. Mh, so wie ich bin?
Bewohner: Ja, so wie du bist.
Bewohnerin: 'n Stück überziehen!
Bewohner: Joa. [unverständlich]
[Schritte, Türen quietschen, starkes Rauschen]
[mysteriöse Musik] Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111km Akten –
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".