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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge! Mein Name ist Maximilian Schönherr, ich bin Rundfunk-Journalist und zusammen mit Dagmar Hovestädt, die die Abteilung Vermittlung und Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv leitet, Gastgeber des Podcast.
Dagmar Hovestädt: Heute geht es um einen Bereich, mit dem wir uns hier im Podcast tatsächlich bislang noch gar nicht beschäftigt haben, nämlich um den Sport.Sich sportlich zu betätigen, ist etlichen Menschen ein Bedürfnis, manchen ein Graus und für besonders talentierte eine Profession. Und wer sehr gut ist im Sport, zeigt seine Fähigkeiten auch auf internationalen Wettkämpfen und repräsentiert sein oder ihr Land in Turnieren und bei Olympia.In der Zeit des Kalten Krieges war der Sport insbesondere eine Stellvertreter-Welt für die Konkurrenz der Systeme - für den Osten gegen den Westen. Vor diesem Hintergrund ist beim Thema Spitzensport in der DDR auch schnell das Wort Doping in der Diskussion. Denn wer im sportlichen Wettkampf gewinnt, steht stellvertretend für die Überlegenheit des Systems, das er vertritt. Und so stieg der politische Druck auf das Gewinnen in der DDR immens.
Maximilian Schönherr: Doping im Sport wurde zuerst offiziell 1963 im Europarat definiert, das findet sich im Wikipedia-Artikel zu dem Thema. Doping bedeutete demnach - und jetzt kommt eine lange Definition - "die Verabreichung oder [...] Gebrauch körperfremder Substanzen in jeder Form und physiologischer Substanzen in abnormaler Form oder auf abnormalem Weg an gesunde Personen mit dem einzigen Ziel" - und jetzt kommt's! - "der künstlichen und unfairen Steigerung der Leistung für den Wettkampf." Zitat Ende.Diese "Steigerung der Leistung für den Wettkampf" war in der DDR aufgrund der großen ideologischen Bedeutung von Sport von herausgehobenem Interesse. Es galt, die Überlegenheit des sozialistischen Lagers vor allem im internationalen Vergleich zu behaupten. Und um das zu garantieren, brauchte es Unterstützung.
Dagmar Hovestädt: Tatsächlich wurden 1974 mit dem sogenannten Staatsplan-Thema 14.25 staatliche Vorgaben für den Aufbau eines geheimen und umfassenden Systems des staatlich organisierten Dopings bei Leistungssportlern gemacht. Der Plan legte ebenfalls eine Grundlage für die Entwicklung entsprechender Substanzen. Diese sogenannten UM – unterstützende Mittel – wurden in der Regel zwangsweise und oftmals ohne Wissen oder exakte Kenntnis über die Substanzen von Trainern und Sportärzten an die Sportler*innen verabreicht. Die Folgen dieses vom Staat gelenkten und geforderten Dopings sind bis heute weitreichend.
Maximilian Schönherr: Auch die Akten der Stasi geben dazu tiefe Einblicke. Das Ministerium für Staatssicherheit war nicht für die Entwicklung oder Verabreichung dieser Substanzen zuständig. Die Stasi brachte ihre "Expertise" ein und tat zweierlei:
- Sie versuchte, für die Geheimhaltung der Dopingprojekte zu sorgen.
- Und sie überwachte die beteiligten Personen.
DDR-Spitzensportlerinnen und -sportler selbst, gedopt oder nicht, standen wegen ihrer exponierten Stellung und der vielen Auslandsreisen zu internationalen Wettbewerben sowieso im Fokus des Ministeriums für Staatssicherheit. Immer wieder warb die Stasi Athletinnen und Athleten als inoffizielle Mitarbeiter an.Nach der Friedlichen Revolution und der Öffnung des Stasi-Unterlagen-Archivs 1989/90 war das staatlich organisierte Doping der DDR auch Thema von Strafverfolgung und juristischen Auseinandersetzungen, die insbesondere rund um das Jahr 2000 zu größerer Öffentlichkeit führten.
Dagmar Hovestädt: Wir hören heute im Gespräch eine Frau, die in der DDR in den 1980er Jahren eine Top-Leichtathletin war und sich erst viele Jahre später über das Doping ihrer aktiven Zeit Gedanken machte. Für Gesine Tettenborn, wie für viele Sportler*innen aus der Zeit, ist dies eine mühsame Suche nach Puzzleteilen, die sie versucht zusammenzusetzen, um ein besseres Bild der Zeit zu gewinnen. Unterstützung findet sie dabei auch beim Doping-Opfer-Hilfe Verein, der seit 20 Jahren versucht, Licht in dieses besonders verschleierte Dunkel aus Staatsraison, Training, Medikamenten, sportlichem Ehrgeiz und individuellem Verhalten zu bringen. Wir hören im zweiten Teil des Gesprächs auch von einer Mitarbeiterin des Vereins, die insbesondere in Archiven nach Dokumenten sucht, die Belege für das, was geschah, liefern können.
Maximilian Schönherr: Da melden wir uns nochmal in dem zweiten Teil des Gesprächs.Vielleicht sollten wir noch ein paar Rahmendaten kurz erwähnen. Gesine Tettenborn heißt zu Beginn ihrer Karriere Gesine Walther. Das ist der Name, der in der Sportwelt bekannt ist. Sie wurde 1962 im sachsen-anhaltischen Weißenfels geboren. Ihr Talent für den Sprint stach schon in der Schule heraus.1980 lief sie bei den Olympischen Spielen in Moskau, die wegen des Einmarsches der Sowjetunion in Afghanistan vom Westen boykottiert wurden. In Reaktion darauf boykottierter der Ostblock die nächsten Olympischen Sommerspiele 1984 in Los Angeles. Gesine Walther und ihre Kolleginnen aus der Sprint-Staffel fuhren also nicht nach LA. Daher ist im Gespräch die Rede dann von Europameisterschaften und einem Weltrekord im Jahre 1984, der übrigens in Erfurt gemessen wurde.
Dagmar Hovestädt: Dann wird zwischendrin mal der DTSB erwähnt, das ist der Sportverband in der DDR, der Deutsche Turn- und Sportbund, der direkt vom Zentralkomitee der SED - der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands - angeleitet wurde. Im Westen, zur Erinnerung, hieß der vergleichbare Verband DSB, Deutscher Sportbund, also fast identisch, nur ohne Turn.Das Wort OPK taucht auf, das ist eine Abkürzung aus dem Stasi-Jargon für "Operative Personenkontrolle" - ein Vorgang, mit dem die Stasi eine Person in den Blick nahm und überwachte.Und schließlich kommt die "Internationale Gesellschaft für Menschenrechte" vor. Diese Nicht-Regierungsorganisation wurde 1972 in Frankfurt am Main gegründet und hatte vor allem in der Zeit [betont: vor] dem Fall der Mauer eine sehr deutliche antikommunistische Ausrichtung. Erich Mielke, der Stasi-Minister, erklärte sie schon 1975 zu einer "Feind-Organisation", was jeden Kontakt mit ihr aus Sicht der Stasi besonders problematisch machte.
Maximilian Schönherr: Dann legen wir los mit dem Gespräch, das das Stasi-Unterlagen-Archiv in Kooperation mit dem Doping-Opfer-Hilfe Verein veranstaltet hat und das im Juni 2022 in der "Stasi-Zentrale. Campus für Demokratie" stattfand. Durch das Gespräch führt die Journalistin Elise Landschek.
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Elise Landschek: Erzählen Sie doch mal kurz, wie Sie zum Sport gekommen sind. Ihre Eltern waren Kunsthandweber und haben sich nicht weiter für Sport interessiert, aber Sie hat es dann doch begeistert. Wie kamen Sie dazu?
Gesine Tettenborn: Tja, ich bin von meiner Schule in der ersten Klasse in eine Kreis-, Kinder- und Jugendspartakiade delegiert worden - das ist, was wir heute vielleicht Bundesjugendspiele nennen. Und da habe ich halt gewonnen: den Weitsprung, den 60-Meter-Lauf. Die Trainer haben mich dann zur Siegerehrung eingeladen in ein Trainingslager und da bin ich gleich in der ersten Klasse in mein erstes Trainingslager gefahren. Und ich fand das auch gut, die Trainer waren mir sympathisch. Das waren ein Mann und eine Frau. Die haben mich danach dann gleich zum Training weiter eingeladen und da bin ich dann eben kontinuierlich zum Training gegangen. [Davon] hab ich einfach ein gutes Gefühl gehabt, also allein schon durch dieses erste Erfolgserlebnis dachte ich: Ja, das will ich nächstes Jahr wieder haben, da will ich wieder Medaillen gewinnen! Dann muss ich dazu trainieren. Und dann kam ich schon, ich glaub, vierte Klasse das erste Mal in die Zeitung, da [gab es] einen Zeitungsartikel über mich. Und dann hab ich natürlich gedacht: Boah, das könnte ich auch schaffen, zu Olympia und so zu fliegen. Und dann habe ich mir aus verschiedenen Ländern so Bilder über das Bett gehängt, weil ich halt schon als Kind gerne gereist bin.
Elise Landschek: Mh-mh. Sie sind ja 1978 auf die Sportschule in Erfurt gekommen und von da an ging es ja auch sehr steil bergauf für Sie.
Gesine Tettenborn: Ja.
Elise Landschek: Sie haben dann richtig Karriere als Leistungssportlerin gemacht.
Gesine Tettenborn: Ja.
Elise Landschek: Wie war diese Zeit an der Schule für Sie?
Gesine Tettenborn: Am Anfang war die Zeit ganz gut. Wir hatten so verschiedene Klassen. Also, meine Klasse hieß zum Beispiel "9 L 1". Das war "9 Leichtathletik" und dann gab es Schwimmer-Klassen. Wir waren ungefähr 14, 15 Schüler - mehr nicht. Und ich bin da eigentlich erst mal ganz gut aufgenommen worden, hab mich da sehr schnell durchgesetzt. Und ehe ich mich versah, bin ich mit zu Olympia geflogen mit 17.
Elise Landschek: Mh-mh. Bevor wir dazu kommen, habe ich jetzt hier nochmal Ihren Leistungsplan an die Wand geworfen. Also diese "Plan-Soll-Erfüllung", vielleicht können Sie noch was zu diesem Plan sagen, der ja auch so einen Leistungsdruck auch verkörpert, ne?
Gesine Tettenborn: Nicht unbedingt. Wir waren in der DDR ja diese Planwirtschaft gewöhnt. Wir haben das in der Schule gelernt und man ist davon ausgegangen: der Plan funktioniert [lacht leicht]. Also, das war jetzt nicht so ein Druck - ich muss das schaffen -, sondern einfach eine Überzeugung: Das ist zu schaffen. So waren wir erzogen. So habe ich dann sozusagen meine Karriere vor mir gesehen, aber das, was nicht geplant war, war, dass meine Leistungsentwicklung viel, viel schneller ging.
Elise Landschek: Vielleicht können Sie kurz erläutern?
Gesine Tettenborn: Also, ich bin 1980 dann schon - da habe ich ja dieses eine Bild, wo steht "der schnellste 100-Meter-Lauf der Geschichte" - 10,97[s] gelaufen. Da habe ich dann eigentlich schon fast das Ziel von 1984 erfüllt gehabt.
Elise Landschek: Ja. Also, das war 1979, von dann ist dieser Leistungsplan.
Gesine Tettenborn: Ja, genau.
Elise Landschek: Und dann wurde in die Zukunft gedacht für Sie, ne, dass Sie erst vier Jahre später so gut sein sollten.
Gesine Tettenborn: Genau. Und man muss aber auch sagen, dass diese Leistungssprünge eben ganz, ganz typisch für dieses Oral Turinabol sind. Das wusste ich damals natürlich nicht! Dass eben, wenn eine Athletin das erste Mal diese Mittel nimmt, dann diesen schon sehr großen Leistungssprung macht.
Elise Landschek: Wissen Sie, ab wann Sie diese leistungssteigernden Mittel wie Oral Turinabol bekommen haben?
Gesine Tettenborn: Ja, die habe ich im Frühjahr 1980 in der Olympia-Vorbereitung das erste Mal bekommen.
Elise Landschek: Okay. Und wie haben Sie das gemerkt? Waren das Tabletten, die Sie bekommen haben? Oder haben Sie überhaupt irgendwas bemerkt?
Gesine Tettenborn: Mein Trainer hat mir diese Tabletten gegeben und hat gesagt, das sind unterstützende Mittel. Die wurden von Jenapharm hergestellt. Das ist eigentlich ein Medikament, was die bettlägerigen Kranken sozusagen unterstützen soll, dass die nicht den Muskelabbau haben. Und, dass ich das halt nehmen muss. Und dann war das halt so, ne. Dann musste ich noch eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben und dann dachte ich: Gut, wenn das sogar Leute im Krankenhaus nehmen, kann das ja nichts Verkehrtes oder Schlimmes sein.
Elise Landschek: Haben Sie einen Effekt gemerkt, wenn Sie die Medikamente eingenommen haben?
Gesine Tettenborn: Der hat erst mal mit wenig angefangen. Das hat sich halt in das Training so eingeschlichen. Also, das war für mich jetzt in dem Sinne nicht irgendwie so bewusst wahrnehmbar. Das habe ich dann erst später, als ich dann 1984 ein Experiment gemacht habe, deutlicher gemerkt. Da habe ich dann mal nur die Hälfte genommen, weil ich meine Tante gefragt hatte, die als Ärztin an der Charité arbeitet, was das ist. Und die sagte zu mir: Vielleicht ist es ja [ein] Placebo, lass das doch mal weg. Und da habe ich gedacht, weglassen vielleicht nicht, erst mal halbieren. Und da habe ich dann tatsächlich gemerkt, dass der Muskelturnus abgefallen ist, einfach nur durch die Halbierung dann im Laufe der Zeit.
Elise Landschek: Haben Sie damals dieses Mittel vielleicht auch mit Ihren Freundinnen oder mit Ihren Kolleginnen damals thematisiert? Hat man darüber gesprochen oder mit irgendjemandem darüber gesprochen? Oder war das einfach so?
Gesine Tettenborn: Nee. Also, das war ja diese Atmosphäre in einer Diktatur. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen! Wenn man dann auch schon mal einem Stasi-Offizier gegenübersaß und der hat einen auch gefragt, ob man eventuell auch Berichte schreiben würde oder so. Da konnte man nicht offen reden. Da konnte man nicht offen reden! Das war fast manchmal sogar so, dass ich den Eindruck habe, mein Trainer könnte meine Gedanken lesen.Also, das steht auch in meiner Stasi-Akte, dass ich mich extrem zurückgezogen habe. Da hat man nicht offen über so etwas diskutiert oder so. Überhaupt nicht.
Elise Landschek: Wann wurden Sie von der Stasi angesprochen?
Gesine Tettenborn: Also mein erstes Treffen mit der Stasi hatte ich direkt nach dem Fluchtversuch meines Bruders, im Herbst 1980.
Elise Landschek: Dazu kommen wir gleich noch. 1980 sind Sie nach Moskau gefahren, als Ersatz-Läuferin für die 4-mal-100-Meter-Staffel. Und das war nicht nur in sportlicher Hinsicht für Sie prägend, sondern Sie haben da eine interessante Bekanntschaft gemacht, die Ihnen auch die Augen ein bisschen, ein Stück weit geöffnet hat.
Gesine Tettenborn: Ja, genau. Ja, wir sind dann halt in die Disco gegangen, die hatten so ein schönes Kulturzentrum da in Moskau im Olympischen Dorf. Und da war ja dieses berühmte Lied "Moskau, Moskau, wirf die Gläser an die Wand, Russland ist ein schönes Land" von Dschinghis Khan. Das kam dann da immer und wir haben halt getanzt und da hat mich ein Schweizer Sportler zum Tanzen aufgefordert, ein Ruderer. Der war auch Ersatzmann wie ich. Der hat mich immer wieder aufgefordert und wir haben uns dann auch unterhalten. Also, er hat dann direkt auch Fragen gestellt, ob wir alle gedopt wären, oder hat mich auch gefragt: Was machst du, wenn du gesundheitlich völlig fertig bist? Die werden dich doch erst aufhören lassen, wenn du total fertig bist! Und da hab ich gesagt: Och, da werde ich einfach schwanger und so. Und da hat er gelacht. Also, es war unglaublich, [über] was wir uns alles unterhalten haben.
Und ja, wo ich nach Hause gekommen bin, sag ich: Mutti, wir verblöden hier. Also solche Gespräche zu führen, war in der DDR undenkbar. Auch selbst mit den Eltern nicht. Da wurde eben dann doch sehr viel geschwiegen. Meine Familie war jetzt nicht unbedingt linientreu, aber es wurde eben über vieles einfach nicht gesprochen, auch, um die Kinder nicht zu gefährden, dass die mal in der Schule was Falsches sagen oder so.
Elise Landschek: Mh-mh. Also war das sozusagen das erste Mal, dass Sie das verstanden haben, was da passiert? Und haben Sie dann auch so eine Haltung entwickelt: Ich will das nicht mehr - oder war das erst mal nur so dieser erste Schritt?
Gesine Tettenborn: Meine Oma hat gesagt: Doping, das nehmen die vor dem Wettkampf, um sich aufzuputschen. Und das war für mich Doping, vom Verständnis her, ne.Und ja, ich hab mich ja mit diesem Schweizer dann nochmal in Prag getroffen und da hat er mich nochmal vor den Spritzen gewarnt. Er hat gesagt: Nimm auf alle Fälle nicht solche Spritzen, da sind anabole Steroide drin. Ich hab mich dann gegen die Spritzen gewehrt. Ich hab dann zu meine Trainer gesagt: Ich nehme keine Spritzen mehr! Aber an diesem Oral Turinabol habe ich also nichts vermutet, sagen wir mal. Obwohl da -abol schon steht, ne. Aber in meiner Familie - bis auf meine Tante, die Ärztin war, aber die war Gynäkologin - hatte keiner so pharmazeutische oder medizinische Kenntnisse, dass da irgendjemand was geahnt hätte.
Elise Landschek: Hat Ihr Trainer das akzeptiert, dass Sie gesagt haben: Die Spritzen will ich nicht?
Gesine Tettenborn: Nee, der wollte mich nicht mehr weiter trainieren. Wir sind dann bis zum Club-Chef gegangen, der hat gesagt: Ich kann diese Athletin nicht mehr weiter trainieren, sie weigert sich, mit der Sportmedizin zusammenzuarbeiten. So hieß das in ihrem Fachjargon. Und unser Club-Chef hat ihn dann versucht zu überzeugen, dass er mich trotzdem weiter trainiert, und hat gesagt, ich brauch keine Spritzen mehr nehmen. Und da haben sie dann einfach die Turinabol-Menge bei mir erhöht.
Elise Landschek: Sie sind ja 1980 nach Hause gekommen und Sie beschreiben das ganz schön, auch in Ihren Memoiren, dass Ihre Mutter da saß und ganz ernst guckte und eine schlechte Nachricht für Sie hatte. Was war das?
Gesine Tettenborn: Ja, also meine Mutter sagte, dass mein Bruder in Haft ist, dass die schon eine Hausdurchsuchung gemacht hatten und dass er versucht hat, in Ungarn über die Grenze nach Österreich zu kommen, und dort eben gefasst wurde und jetzt in Halle in Untersuchungshaft ist.
Ja, da war das eben, was ich da so beschrieben habe: Dann sagt meine Mutter, das war doch ein Verzweiflungsakt, weil die Freundin mit ihm Schluss gemacht hat. Und dann hab ich zu ihr gesagt: Nee, Mutti, ich glaub nicht, dass das wegen der Freundin ist - wir verblöden ja hier total. Und ich habe einen Schweizer Ruderer bei der Olympiade kennengelernt und wir haben uns so toll unterhalten! Und da sagt meine Mutter: Seid ihr denn alle verrückt geworden? Willst du jetzt auch noch abhauen? Und so [weiter]. Da hab ich erst mal nichts dazu gesagt und das war schon ein Schock. Also, alle dachten eigentlich, ich fliege jetzt von der Sportschule. Meine Mutter hatte dann schon versucht, da Kontakte zu knüpfen zu einer Textilrestauratorin, und da dachte ich: Oh nee, das kann ich mir auch nicht vorstellen, da vor so einem Teppich zu sitzen [lacht leicht], ich brauche doch viel Bewegung!
Mein Trainer hat ja dann gebürgt für mich. Also, der musste direkt bei der Stasi so eine Bürgschaft unterschreiben, dass er dafür sorgt, dass ich nicht abhaue in den Westen. Das war ihre ganz, ganz große Angst, dass irgendjemand im Westen bleibt und dieses Prestige der DDR, das sie sich jetzt so mühsam aufgebaut haben durch den Sport, wieder zerstört. Der hat dann eben für mich unterschreiben müssen. Wenn ich jetzt abgehauen wäre, hat er immer gesagt, dann verliert er seinen Beruf, dann kann er seine Familie nicht mehr ernähren und was weiß ich. Das gab es ja wirklich auch, solche Strafarbeiten in der DDR.Ja, und dann durfte ich tatsächlich weiter trainieren. Das war für alle eigentlich wie ein Wunder.
Elise Landschek: Hat er da was dafür erwartet, dass er diese Bürgschaft übernimmt? So hundertprozentiges Dahinterstehen? Oder hat er Sie quasi damit unter Druck gesetzt?
Gesine Tettenborn: Ja, nicht direkt. Er hat schon auch mehr Dankbarkeit von mir erwartet. Also gerade im Bezug, dass ich dann auch in die Partei gehe.
Elise Landschek: Was Sie nicht gemacht haben.
Gesine Tettenborn: Nee, das habe ich nicht gemacht. Ich konnte halt nicht in die Partei gehen, weil ich halt eigentlich gläubig erzogen war und der christliche Glaube war mir auch wichtig. Es war ja eine atheistische Partei, die das komplett geleugnet hat und die Glaubensdinge eben durch diese Ideologie ersetzt haben. Und das wollte ich einfach auch nicht irgendwie in meinem Kopf haben.
Elise Landschek: Wie hat Ihr Trainer da reagiert? Wie ist er mit Ihnen umgegangen?
Gesine Tettenborn: Der war stinkesauer auf mich. Also, der hat mich beschuldigt, dass ich eben arrogant wäre und dass ihm noch nie so eine Athletin untergekommen wäre, die so arrogant gewesen wär wie ich. Und eben, dass ich undankbar bin. Ja, dann gab es das halt eben auch: Aussprachen, wo er mich beleidigt hat, unter Druck gesetzt hat, wo er mich dann nicht mehr mit dem Namen angesprochen hat. [Er] hatte dann nur so "Lange" zu mir gesagt, "Lange so" und "Lange so". Und er hat mich dann auch hinter meine Freundin eingeordnet, hat gesagt, ich bin jetzt nur noch die Trainingskameradin für sie. [Es] waren auch Aussprachen. Also, in der DDR gab es kein Trainer-Athlet-Gespräch. Dann gab es auch keine Technik oder so groß mehr, das waren dann alles Aussprachen, wo er auch wirklich versucht hat, mich unter Druck zu setzen oder fertigzumachen, dass ich nachgebe.
Elise Landschek: Haben Sie überlegt hinzuschmeißen und zu sagen: Ich mach das nicht mehr mit!
Gesine Tettenborn: [atmet tief] Deswegen jetzt nicht, nee. Ich hab auch schon sehr am Sport gehangen. Ich hab aber schon auch überlegt, ob ich nicht vielleicht auch mal den Trainer wechseln könnte. Das habe ich schon überlegt, ja.
Elise Landschek: Was war denn der Sport damals für Sie, wenn Sie sagen, das war schon so Ihr Leben?
Gesine Tettenborn: Ja, das war mein Kindheitstraum, eine erfolgreiche Sportlerin zu werden. Das hatte ich erreicht. Und ich hab auch diese Reisen sehr genossen, auch wenn die Eindrücke nur kurz waren. Ich hab mir immer Bücher mitgebracht oder Schallplatten, mich ein bisschen mit der Sprache beschäftigt, mit dem Land beschäftigt. Das habe ich wirklich sehr geliebt und sehr genossen. Ich habe auch das Training sehr geliebt und den Wettkampf und alles. Also, ich hab auch eigentlich meine Sportkameraden gemocht.
Elise Landschek: Also, es hat Ihnen auch so eine Freiheit eröffnet, ne? Sie waren ja in Budapest, in Mailand, in Athen.
Gesine Tettenborn: Ja, genau.
Elise Landschek: In Moskau. [lacht leicht]
Gesine Tettenborn: Genau, ja, so eine Weltoffenheit, das hat mir gefallen. Ja.
Elise Landschek: Mh-mh. Haben Sie was davon geahnt, dass die Stasi Sie quasi überwacht?
Gesine Tettenborn: Nein, nein. Das habe ich nicht geahnt. Also, man war generell vorsichtig. Bei Briefen. Also, [mit] dem Schweizer zum Beispiel: Wir haben uns noch eine Zeit lang geschrieben. Ich hab nie was vom Sport oder so reingeschrieben. Falls jemand diesen Brief aufmacht, dass ich dann nicht erkannt werden kann. Also, ich weiß nicht, was ich da eigentlich geschrieben habe. Wahrscheinlich habe ich da den größten Käse reingeschrieben [lacht leicht]. Eigentlich möglichst [so], dass ich nicht erkannt werden kann, und hab dann eben auch andere Adressen angegeben von meinen Verwandten. Da war Gott sei Dank kein IM oder so dabei! Die haben mich eigentlich alle unterstützt. Da war mal ein Schwager in Leipzig und eine Tante in Naumburg. Ich hab dann immer den nächsten Absender da hinten draufgeschrieben und der hat dann an diese Adresse geschrieben. Mh-mh.
Elise Landschek: Sie haben ja auch den Schweizer dann nochmal in Prag getroffen, haben Sie erzählt.
Gesine Tettenborn: Ja!
Elise Landschek: Das ist ja eigentlich auch ein Unding, ne? Hatte das irgendjemand mitbekommen?
Gesine Tettenborn: Nein, das hat niemand mitbekommen. Das hat niemand mitbekommen. Nein, da wäre ich wirklich in den Knast gewandert, wenn sie das gemerkt hätten. Weil das war ja sozusagen der Klassenfeind und ich war ja in ihren Augen so eine Art Geheimnisträgerin und da gab es dann ganz schnell Spionageverdacht. Das ging dann ganz schnell.
Elise Landschek: Hatten Sie Angst, in den Knast zu kommen?
Gesine Tettenborn: Nee, eigentlich nicht. Eigentlich habe ich es mit einkalkuliert, weil mich das mit meinem Bruder wirklich belastet hat. Da habe ich gedacht: Gut, dann gehe ich eben auch in den Knast und dann lass ich mich auch freikaufen oder so. Also, ich hab das schon bewusst einkalkuliert, aber ich war auch so, ich hab das nicht bewusst eingefordert. Also, ich hab auch wirklich versucht, alles zu vermeiden. Ich hab das mit meiner Mutter durchgesprochen, auf was ich achten muss. Meine Mutter hat zum Beispiel gesagt: Tausch dein Geld erst in Dresden um, deine Kronen. Dann hat sie gesagt: Niemand darf deinen Ausweis sehen, wenn du in das Hotel gehst, geh nicht zur Rezeption; geh gleich auf das Zimmer, dass niemand deinen Ausweis zu Gesicht bekommt. Ja. Und dann, auf der Rückfahrt, habe ich in meinem Personalausweis ja so einen Stempel gehabt, dass ich in Prag war. Da habe ich dann Wasserdampf genommen und [lacht leicht] hab diese Seite rausgetrennt und hab die verbrannt und in die Toilette geschmissen. Und dann haben die von der Polizei mal irgendwann gefragt: Was ist denn hier mit der Seite? Und dann hab ich gesagt: Och, die hat sich irgendwie gelöst. Und es war ja allgemein so eine ziemlich große Schlamperei in der DDR, da hat der Kleber nicht richtig gehalten und so, und dann hat man das so durchgekriegt.
Elise Landschek: Wir sehen jetzt nochmal Sie in Aktion in Athen, 1982 war das.
[Originalton Anfang]
Kommentator: [unverständlich]... Dritte von außen, Gesine Walther für die DDR. Sie holt schon ein wenig auf gegen die Italienerin, aber die Bulgarin vorne ist ganz schnell! Stab-Übergabe an Bärbel Wöckel. Na? Na? Na?! Doch! Ist noch gegangen. Er war aber- - Er war aber hart an der Grenze. Übergabe zu Sabine Rieger, die startet ein wenig zu spät. [im Hintergrund Pfiffe und Jubel] Großbritannien kommt auch, Bulgarien noch recht gut im Rennen. Jetzt Marlies Göhr! Jetzt hat die Weltrekordlerin und Europameisterin den Stab, gewinnt das Duell gegen die kleine Britin Thomas - erster Platz für die DDR, zweiter Platz für Großbritannien und dritter für Frankreich. Die Französinnen auf Platz drei vor Bulgarien und vor der UdSSR, das ist doch eine gehörige Überraschung. 42,18[s] - auch eine passable Siegerzeit für die DDR-Staffel, für Gesine Walther, Bärbel Wöckel, Sabine Rieger und Marlies Göhr.
[Originalton Ende]
Elise Landschek: Genau, früher hießen Sie Walther - das muss man noch dazu sagen.
Gesine Tettenborn: Ja, mein Geburtsname.
Elise Landschek: Genau. Wie geht's Ihnen, wenn Sie das jetzt sehen, die alten Bilder aus Athen?
Gesine Tettenborn: Es war für mich halt schon schön, diese Wettkämpfe machen zu können, ne. Es ist auch [so]: Trotz aller Traurigkeit, trotz aller gesundheitlicher Beschwerden und dem Preis, den ich gezahlt habe, bin ich halt auch dankbar für die Erfahrung.
Elise Landschek: Mh-mh. 1982, also dem Jahr, wo dieser Lauf war, wurde Ihr Bruder aus der Haft entlassen.
Gesine Tettenborn: Mh-mh.
Elise Landschek: Aber nicht in den Westen, also er wurde nicht freigekauft, wie er sich das erhofft hatte, sondern er ist in den Osten gekommen. Wie war danach das Verhältnis zwischen Ihnen beiden? Was hatte das quasi mit Ihnen zu tun oder was hat das mit Ihnen gemacht?
Gesine Tettenborn: Ja, das war ganz eigenartig. Ich hatte eigentlich erwartet, dass mir mein Bruder irgendwie Vorwürfe macht oder sauer auf mich ist. Aber er war unheimlich nett, hat mir auch keine Vorwürfe gemacht, hat gesagt, er hat eben im Gefängnis erzählt, dass ich sehr angetan wäre - so sein Wortlaut -, also ich bin sehr angetan von diesem Staat hier. Und, hat er gesagt, um deine Karriere nicht zu gefährden. Und dann hab ich gesagt: Nee, nee, so ist das eigentlich nicht gewesen, ich hab mich auch mit einem Schweizer getroffen. Und dann hat er gesagt: Ja, dann versteh ich nicht, wieso du nicht einfach in die Botschaft reingelaufen bist, du hättest in Rom - das war mein erster West-Wettkampf - einfach in die Botschaft [lacht kurz] reinlaufen können. Und dann hab ich gesagt: Nee, das will ich nicht. Und ich war ja auch noch ein Schulmädchen. Ich bin da noch in die Schule gegangen. War wirklich ganz nett und lieb und dadurch hatte ich natürlich dann auch unheimlich Schuldgefühle ihm gegenüber bekommen. Und dann habe ich also auch gleich im Sommer 1983 versucht, das erste Mal schwanger zu werden.
Elise Landschek: Um rauszukommen, auch aus dem Sport?
Gesine Tettenborn: Um rauszukommen und ihm die Möglichkeit zu geben, dass eben entweder sein Ausreiseantrag genehmigt wird oder dass er freigekauft wird, und das hat dann nicht geklappt. Und ich hatte mir damals wegen dieser vielen Probleme, die ich hatte, auch über eine Verwandte psychologische Hilfe gesucht. Und dieser Psychologe hatte dann gesagt: Sie müssen mit einem ganz großen Erfolg aufhören. Meine Eltern haben sich da gar nicht eingemischt in die ganze Sache. Mit diesem Psychologen konnte ich eben sehr gut zusammenarbeiten und sehr gut reden. Das war mir dann einleuchtend, weil ich ja gerade mal mein Abi hatte und eigentlich noch gar nicht so richtig für ein Kind sorgen konnte. Und dann habe ich das eben 1984 nochmal probiert nach dem Weltrekord. Danach hatte ich wirklich freie Bahn.
Also, das wurde ja als Olympiasieg gewertet. Die DDR hatte ja Olympia 1984 boykottiert und an diesem Olympiasieg hing eben auch eine hohe staatliche Auszeichnung dran und auch, dass man eben bei der Wohnungsvergabe bevorzugt wurde [lacht leicht]. Ich hatte dann eben auch eine Wohnung bekommen. Da wusste ich: Jetzt bin ich eigentlich für mein Leben abgesichert - zumindest in der DDR.
Durch diese Schwangerschaft war es dann auch eine gütliche Einigung. Wir hatten ja einen Leistungsauftrag. Also, ich hätte ja meine ganzen Prämien auch nicht gekriegt, wenn ich einfach so aufgehört hätte. Der DTSB hat unsere Prämien zurückgehalten, die wir für unsere sportlichen Erfolge bekommen haben, und hat sich dann vorbehalten, die auszuzahlen oder auch nicht auszuzahlen - je nachdem, ob wir böse oder lieb waren. Dadurch konnten die natürlich die Sportler auch erpressen, also so lange zu machen, wie die das wollten. Und dann war das aber mit meinem Bruder so, dass ich dann doch wenigstens einen Teil der Prämie gekriegt hatte.
Elise Landschek: 1984 ist ihr Bruder zum zweiten Mal inhaftiert worden.
Gesine Tettenborn: Ja.
Elise Landschek: Und da stand natürlich wieder diese Frage: Er wollte wahrscheinlich wieder in den Westen und Sie waren wieder auf dieser Position der Schwester im Leistungssport.
Gesine Tettenborn: Genau.
Elise Landschek: Deswegen halt auch dieser Auswegsgedanke mit der Schwangerschaft.
Gesine Tettenborn: Ja.
Elise Landschek: Und es gibt in Ihrer Akte, der OPK, einen Hinweis. Also, den lese ich jetzt mal kurz vor. Von 1984. "Am 13.01.84 erfolgte die erneute Inhaftierung des W. durch die KD Weißenfels. Bei der am 14.01.84 erfolgten Hausdurchsuchung wurde ein Brief des Bürgers Sch. vom 28.12.83 an den Bruder der Walther beschlagnahmt. Sch. ist ein aktiver Mitarbeiter der "Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte", Arbeitsgruppe Hamburg bekannt. Er schreibt wörtlich: 'Sag mal, wird deine Schwester nun im nächsten Jahr zur Olympiade antreten? Es wär gut, wenn ich das wüsste. Wir haben ja auch eine Nebenstelle in den USA.'"Er war, glaube ich, bei "Amnesty International", ne?
Gesine Tettenborn: Ja.
Elise Landschek: Deswegen wurde er inhaftiert. Dann sind Sie kurz nach dem Weltrekord schwanger geworden, Sie haben es schon gesagt. Auch, um Ihrem Bruder zu helfen. Und auch dazu hat die Stasi dann einen Vermerk hinterlassen: "Ergebnisse des politisch-operativen Aufklärungsprozesses: Die W. hat nach der Geburt ihres Kindes einen Antrag auf Entbindung vom Leistungssport gestellt. Obwohl von Seiten der Leitung des SC Turbine die Meinung bestand, dass sie in der Lage wäre, ihr Leistungsvermögen bereits im Jahre 1986 wieder zu erreichen, wurde dem Antrag aufgrund der Entlassung des Bruders am 12.03.85 aus dem Strafvollzug in die BRD stattgegeben.Seit der Schwangerschaft und besonders nach der Geburt des Kindes lebt die W. völlig zurückgezogen."Sie haben damals diesen Sport, den Sie so sehr liebten, aufgegeben.
Gesine Tettenborn: Mh-mh.
Elise Landschek: Was hat das mit Ihnen gemacht in dieser Zeit?
Gesine Tettenborn: Schwer zu sagen. Ich denke schon auch, dass ich dann Schuldgefühle hatte, und erst mal habe ich einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Ich hab ja dann zu nähen angefangen. Ich habe Näherin gelernt und hatte mich dann da drauf spezialisiert, praktisch Klamotten für Leute zu nähen. Ich hab mir auch eine eigene Designerlinie überlegt. Und dann war ja auch mein Sohn geboren, das war mir auch besonders wichtig, dass ich genug Zeit für ihn hatte. Ich hab das jetzt eigentlich nicht so als Katastrophe erlebt, muss ich sagen.
Elise Landschek: Mh-mh. Also es hat Ihnen dann quasi auch nicht mehr gefehlt, sondern das war vielleicht auch eine Befreiung?
Gesine Tettenborn: Ja, das war für mich alles okay. Ich war ja dann auch überrascht, dass ich eben dann diese psychischen Probleme bekommen hatte. Weil das eigentlich alles bei mir ganz gut ging, hatte ich den Eindruck, dass ich eigentlich Glück hatte. Ich hatte mal einen Arzt gefragt, ich hatte mich schon immer für Gesundheit auch interessiert. Da hab ich gesagt: Wir haben so hart trainiert. Wie kann ich das machen, dass ich eben, wenn ich dann raus bin aus dem Sport, keine Probleme kriege mit der Gesundheit? Und da hat der zu mir gesagt - wortwörtlich -: Kinder kriegen, Kinder kriegen, Kinder kriegen. Und da hab ich gesagt: Wieso Kinder kriegen? Und er hat gesagt: Ja, ehrlich gesagt, die meisten Sportler sind zu faul zum Abtrainieren. Wenn man so viel trainiert hat, dann möchte man A) mal was anderes machen und B) kann man sich oft nicht aufraffen, und wenn, dann macht man nur ein bisschen. Aber durch die Schwangerschaft und durch die kleinen Kinder ist man halt immer in der Belastungssituation drin. Und das war mir auch einleuchtend. Ich hab auch keine Herz-Kreislauf-Probleme oder irgend so was bekommen, ja. [Ich] hab dann auch, wo wir dann übergesiedelt wurden, so mal mit 100-Meter-Sprint angefangen, ein bisschen, nach drei Kindern. Ich dachte wirklich, ich hätte das alles super in den Griff gekriegt, ne.
Elise Landschek: Es ist ja auch ein Glück, dass Sie diese Kinder bekommen haben.
Gesine Tettenborn: Ja!
Elise Landschek: Viele andere Sportlerinnen konnten das nicht mehr wegen der Mittel.
Gesine Tettenborn: Genau, ja. Dafür bin ich auch sehr dankbar. Wirklich.
Elise Landschek: Sie haben 1996 Einblick in Ihre Stasi-Akte bekommen und dann vieles gelesen, wovon Sie wahrscheinlich vorher nicht wussten. Wie war dieser Moment, als Sie die Stasi-Akte in der Hand gehalten haben und das alles lesen konnten?
Gesine Tettenborn: Das war wirklich ein großer Schock für mich. Also, wie die mich gesehen haben, wie die mich eingeordnet haben. Da habe ich lange gebraucht, um das überhaupt zu verarbeiten. Ich hab mir das durchgelesen und dann hab ich das Ding in den Ofen geschmissen. [atmet tief ein] Und dann irgendwann, nach ein paar Jahren - vielleicht sechs, sieben Jahre -, dachte ich: Ach, holst du sie dir nochmal wieder, vielleicht musst du ja mal was nachweisen oder so. Oder auch für deine Kinder. Ist ja auch ein Stück Zeitgeschichte, dachte ich dann. Dann hab ich sie wieder geholt und eigentlich hab ich das alles erst so richtig beim Schreiben, wo ich jetzt mein Buch geschrieben hab, da habe ich das verarbeitet, warum mich das so geschockt hat: weil die mich eigentlich recht gut getroffen haben, aber in einer bösartigen Art und Weise. Wenn sie jetzt total danebengelegen hätten, hätte es mir wahrscheinlich nichts ausgemacht. Aber die haben mich wirklich ganz gut getroffen auch, aber haben das eben alles so gekippt, dass das bescheuert klang, was ich bin. Zum Beispiel haben die Lehrer geschrieben: Sie ist durch ihre Eltern künstlerisch interessiert und hat da auch Talent; sie hat auch Talent für Literatur, da arbeitet sie sehr gut mit im Unterricht. Und die haben draus gemacht: Sie bekommt jetzt eine Wohnung, wo sie sich mit ihren künstlerischen Besonderheiten entfalten kann. Also so ganz abfällig und verachtend. Oder: Sie liest. Hobbys: Lesen. Alles, wozu sie keine anderen Menschen brauch. Man liest doch nicht nur [deswegen]! Also, so ganz komisch eigentlich, ne.
Elise Landschek: Mh-mh. Sie hatten ja später auch eine Depression und man hat bei Ihnen auch Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Kam das sozusagen aus dieser Erfahrung als Sportlerin oder war es auch dieses Erlebnis, wie Sie bespitzelt wurden, wie Leute über Sie geredet haben? Oder können Sie das beschreiben, wo das herkommt?
Gesine Tettenborn: Ich denke, das war das ganze Komplettpaket. Das konnte ich mir im ersten Moment gar nicht auseinanderklamüsern. Und zwar kam das, wo wir umgezogen sind. In Baden-Württemberg war das alles ganz weit weg - DDR. Und wir sind dann hier halt wieder in den Harz gezogen, wir haben sehr nah an der Grenze gewohnt. Da gab es das Grenzlandmuseum und wir sind dann auch öfters in die ehemalige DDR gefahren, zum Einkaufen oder uns was anzugucken. Und ich glaub, da kamen schockartig dann ganz viele verdrängte Erinnerungen hoch. Ich hab eigentlich immer versucht, ein positiver Mensch zu bleiben, und hatte das eigentlich positiv eingeordnet. Und da kam eigentlich so ganz viel Unverarbeitetes und Verdrängtes auch hoch. Noch dazu habe ich da erst gemerkt, dass ich nicht mehr belastbar bin. Das hatte ich vorher ja in der Situation gar nicht so richtig gemerkt. Da habe ich immer gedacht: Ja, wenn die Kinder dann groß sind, dann wird es wieder besser, dann komm ich wieder mehr aus dem Knick und so. Aber das ging dann genau in die umgekehrte Richtung.
Elise Landschek: Mh-mh. Sie haben sich ja dann zu einem harten Cut entschlossen, nämlich sich aus den Listen des Weltrekords streichen zu lassen. War das auch etwas, was Sie für sich brauchten und gemacht haben?
Gesine Tettenborn: Ja, auf alle Fälle. Ich war schon immer ehrlich, wenn jemand gesagt hat: Ihr wart doch gedopt! Da hab ich gesagt: Ja, das stimmt, wir haben diese Tabletten bekommen, wie sie in diesem Buch "Von der Forschung zum Betrug" von Brigitte Berendonk stehen. Ich bin damals davon ausgegangen, nach diesen Doping-Prozessen, dass eigentlich der Leichtathletik-Verband diese Streichungen vornimmt, also dass das die offiziellen Stellen machen - uns streichen.
Dann kam das eben mit dem Wikipedia immer mehr auf und mein Sohn sagte zu mir: Ich möchte auch mal in Wikipedia stehen. Ich hab das gar nicht groß geschnallt, was das ist oder dass das was besonderes ist. Und dann hab ich mir das durchgelesen und dann hab ich gedacht: Nee, da stehst du ja hier als Lügnerin da, das musst du in Ordnung bringen! Und dann hab ich im Jahr 2009 eben Andreas Krieger und Ines Geipel angerufen und hab gesagt: Ich würde mich auch gerne streichen lassen - wie macht man das, an wen muss ich mich da wenden?
Elise Landschek: Weil die das vorher auch gemacht haben, ne?
Gesine Tettenborn: Ja, genau. Genau. Und die haben mir das dann erklärt, was ich machen muss, und 2010 stand es dann im "Spiegel". Aber im Grunde war die Streichung Ende 2009.
Elise Landschek: Ihr Trainer musste ja eine Geldstrafe zahlen. Würden Sie jetzt so im Nachhinein sagen, dass die Verantwortlichen angemessen bestraft wurden?
Gesine Tettenborn: Nee, auf alle Fälle nicht. Die wurden nicht angemessen bestraft. Mein Trainer ist ja dann Bundestrainer noch geworden. Und es ist ja auch so, wenn man dann als Athletin dahängt, mit so einem Berg von Problemen und dann habe ich mir gesagt: Ich bin gerannt, ich hab geschwitzt, ich hab trainiert und ich hab die Probleme. Und diese Leute haben sich dann mit einer relativ geringen Geldstrafe aus der Affäre gezogen.
Elise Landschek: Wurden Sie angemessen entschädigt? Sind Sie zufrieden damit, wie man mit Ihnen umgegangen ist? Sie sind ja staatlich anerkanntes Doping-Opfer.
Gesine Tettenborn: Ja, gut. Ich hab diese Entschädigung gekriegt als Doping-Opfer. Das sind halt Einmalzahlungen und auch als Stasi-Zersetzungsopfer habe ich eine kleine Einmalzahlung bekommen. Es ist aber halt so: Wenn man nicht mehr erwerbsfähig ist, dann sind 10.000 Euro auch mal wieder ganz schnell alle, ne. Das kann man eben gar nicht gegenrechnen. Klar, wir haben das jetzt auch erst mal für die Altersvorsorge gespart. Da spielt das ja auch eine Rolle. Und von daher bin ich da auch aktiv dafür, dass wir auch eine Opfer-Entschädigungsrente bekommen.
Elise Landschek: Wo, würden Sie sagen, stehen wir bei diesem Thema Aufarbeitung heute, was Doping, DDR und Stasi angeht? Haben Sie das Gefühl, da ist schon viel getan worden? Oder stehen wir noch am Anfang?
Gesine Tettenborn: Ja, es ist schon viel getan worden, aber es hat sich auch irgendwo festgefahren, würde ich sagen, weil ja auch viele das für sich persönlich leugnen. Also, meine Staffel-Kolleginnen [beispielsweise]. Ich hab hier was mit, aus einem Buch, wo steht, wie viel Oral Turinabol jede meiner Staffel-Kolleginnen bekommen hat, das ist eigentlich urkundlich beglaubigt. Da wird dann halt gesagt: Ja, das steht da, aber ich hab die Tabletten ja nicht genommen. Ich persönlich hab sie nicht genommen. Es gilt ja in Deutschland die Unschuldsvermutung, also ich darf da auch nicht jemanden anschuldigen oder so.
Und dadurch entsteht eben teilweise das Bild in der Öffentlichkeit, dass das so eine individuelle Sache war mit dem Doping. Der eine hat es genommen, der andere nicht. Und das ist aber meiner Meinung nach ein total falsches Bild, weil das ja ein Staatsdoping war und die Trainer wurden da eingewiesen. Und ich hab das dann ja auch bei meinem Experiment herausgefunden, dass da der Muskelturnus abgefallen ist.
Und wenn man sich heute in der Leichtathletik ein bisschen interessiert, dann hört man immer wieder von Zerrungen, von Verletzungen. Es ist tatsächlich sehr schwer und risikobehaftet, den Muskel so weit und mit der Schnellkraft im Wettkampf ohne Doping aufzubauen. Eigentlich ist ei diesen Leichtathleten immer irgendeiner verletzt. Und wir waren eigentlich relativ selten verletzt. Für diese ganzen Funktionäre und für die Trainer war das super. Die haben verdient, verdient, verdient, weil wir ja eigentlich funktioniert haben. Den Preis dafür oder die Last, die haben wir jetzt. Das ist erst später gekommen. Da hat sich das irgendwie festgefahren. Leider Gottes.
[Jingle]
Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das war die frühere Top-Leichtathletin Gesine Tettenborn - damals hieß sie Gesine Walther - mit ihren Erinnerungen an ihre aktive Zeit, das staatlich verordnete Doping und ihrem Versuch, diese Zeit auch mit Hilfe von Stasi-Unterlagen zu rekonstruieren.
Wir haben das am Anfang schon mal kurz erwähnt: Seit 20 Jahren gibt es den Doping-Opfer-Hilfe Verein, um ehemaligen Spitzensportlern - aber auch Breitensportlern, die in der DDR ebenso Dopingversuchen ausgesetzt worden sein konnten - zu helfen, das Geschehene zu rekonstruieren. Der Verein vermittelt Ärzte, berät Menschen, die sich auf die Spurensuche machen, und versucht, sie auch psychisch zu unterstützen oder rechtlichen Beistand zu finden. Dabei kommt es vielen zunächst erst einmal darauf an, überhaupt herauszufinden, was genau passiert ist, was mit ihren Körpern gemacht wurde. Wie Gesine Tettenborn schon sagte: Es gibt für staatlich anerkannte Doping-Opfer eine finanzielle Unterstützung. Die ist aber, so hat das jemand vom Verein gesagt, nicht das Wichtigste für die, die zur Beratung kommen. Das Wichtigste ist für die meisten erst mal die Aufklärung darüber, was genau passiert ist.
Seit Kurzem hat der Doping-Opfer-Hilfe Verein dafür eine Mitarbeiterin gewonnen, die bis zu ihrer Pensionierung eine Kollegin von mir war. Silvia Oberhack ist ausgebildete Archivarin und unterstützt jetzt den Verein bei Recherchen für Expertisen und Gutachten. Und sie hat dabei eine ganze Reihe an Informationen zusammengetragen, die sich auch aus der juristischen Aufarbeitung des Staatsdoping speisen, also aus den Gerichtsakten, die bei den Prozessen der 1990er- und 2000er-Jahre sowie den dazugehörigen Ermittlungen entstanden sind. Sie zieht dazu am Anfang auch ein kurzes Fazit zu dieser strafrechtlichen Aufarbeitung des Staatsdopings.
Silvia Oberhack: Die juristische Aufarbeitung, die kann ja nur im Rahmen der Gesetze passieren, und zwar der Gesetze im Westen. Ich sag es jetzt mal so, obwohl das ein bisschen blöd klingt, ne. Wir haben einen Rechtsstaat und nach dem Strafgesetzbuch wird aufgearbeitet. Und die Möglichkeit der Anklagen war nur - sag ich mal - Körperverletzung, schwere Körperverletzung. Mehr nicht. Körperverletzung mit Todesfolge - also, ich hab nichts davon gelesen, dass es so eine Anklage jemals gab. Und dann muss man auch noch bedenken: Es muss exakt nachgewiesen werden, dass das so und nicht anders stattgefunden hat.
Und dann kommen wir zu der Überlieferung. Wo sind die Unterlagen geblieben? Es wurden viele Unterlagen vernichtet. Es ist halt Zeugs verschwunden. Und da muss ich wirklich mal eine Lanze [brechen] für die ZERV, für die Zentrale Ermittlungsgruppe Regierungskriminalität. Das LKA hat ja in Fragen Doping ermittelt. Es ist der blanke Wahnsinn, was die geleistet haben! Ich habe mal so geschätzt: Es müsste eine Überlieferung von etwa 300 Metern sein. 300 Meter Ermittlungsakten. Das ist verrückt.
So, was ist daraus geworden? Eine genaue Prozessanzahl kennt man nicht - kommt vielleicht nochmal irgendwann -, etwa 27 Verurteilungen, also richtig mit Gerichtsprozess, und dann hatte ich in anderer Literatur gelesen, etwa 500 Strafbefehle, das heißt, da gab es kein Verfahren vor Gericht, sondern da hat der Staatsanwalt gesagt: Okay, das ist jetzt vielleicht nicht so aufsehenerregend. Oder keine Ahnung, was die sich da so denken, die Juristen. Jedenfalls ist es nicht vor Gericht gekommen und wurde mit einem Strafbefehl sozusagen erledigt. Das waren dann Geldstrafen. Ist natürlich zu dem, was den Sportlern angetan wurde, überhaupt nicht angemessen! Also eigentlich hätten die alle verknackt werden müssen - und nicht nur mit Geld und Strafen auf Bewährung! Ins Gefängnis gegangen ist meines Wissens nach, glaube ich, niemand. Die höchste Geldstrafe war wohl bei 47.000 Mark oder so ähnlich. Und [bei der] Bewährung [waren es] zwei Jahre, drei Monate - solche Geschichten.
Aber dass man die Gesundheit der Sportler hier wirklich ruiniert hat und teilweise wirklich auch billigend in Kauf genommen hat, dass der eine oder andere da seines Lebens gar nicht mehr froh wird, das ist schon so gesehen schwierig mit der juristischen Aufarbeitung. Aber der zweite Teil dieser Aufarbeitung kann ja in der Gesellschaft stattfinden.
Maximilian Schönherr: … sagt die Archivarin Silvia Oberhack. Sie wird als Nächstes die Rolle der Stasi in dem Kontext erläutern, damit man verstehen kann, welchen Beitrag die Stasi-Unterlagen für die Aufklärung des Staatsdopings leisten können. Sie erwähnt in der kommenden Passage Professor Manfred Donike, der in der Bundesrepublik einer der aktivsten Dopingkontrolleure war. Und mit Kreischa, einem Ort in der Nähe von Dresden, ist das damalige "Zentralinstitut mit Rehabilitationszentrum und Dopingkontrolllabor" gemeint, das jeder DDR-Sportler vor einem Auslandseinsatz durchlaufen musste.Zunächst aber erläutert Silvia Oberhack, welche Rolle die Stasi in diesem System spielte.
Silvia Oberhack: Das waren sozusagen die Aufpasser, die auf verschiedenen Ebenen tätig waren. Das war einmal, um zu schauen, dass von den Forschungsprojekten nichts ruchbar wurde. Da wurden also die Wissenschaftler auch beäugt, weil viele ja auch zu Kongressen und so weiter in den Westen fahren durften. Die hatten dann auch noch eine doppelte Funktion, die sollten dann auch gleich mal gucken, was es denn da noch so für Mittelchen gab oder wie weit die Entwicklung in der Analysetechnik fortgeschritten ist. Da gab es dann auch so ein Ereignis: Als festgestellt wurde, dass der Professor Donike bestimmte Mittel feststellen konnte in der Dopinganalyse, hat man bestimmte Mittel in der DDR dann mal abgesetzt und hat dann auch überlegt: Wir müssen uns jetzt mal hier selber ein System entwickeln. Das ist dann in Kreischa passiert. Also, das war wirklich ein Wahnsinnsgeflecht. Das war die eine Aufgabe.
Wer in den Westen gefahren ist, also die Sportler, mussten natürlich ihre Leistung bringen. Aber die mussten natürlich auch politisch in Ordnung sein. Die mussten schon zum Vater Staat halten, ansonsten wurde es auch finster. Ich hab mal so ein paar Zahlen rausgesucht. Also, so in der Anfangszeit gab es IMs und Hauptamtliche in den Nationalmannschaften: Zehn Prozent, die als inoffizielle Mitarbeiter [oder] Hauptamtliche unterwegs waren. 1976 waren es 14 Prozent, 1980 waren es 20 Prozent und 1984 waren es 25 Prozent. Also im Sport etwa 3.000 IM - sagen die Quellen. Ich weiß es nicht, ich hab sie nicht nachgezählt. Aber es macht natürlich alles einen Sinn, weil natürlich zu bestimmten Zeiten auch Ärzte, Sportler, Trainer auch in den Westen gegangen sind oder nicht wieder zurückgekommen sind und man eine unheimliche Angst hatte. Das war die erste Frage: Was wusste der von dem, was hier passiert ist im Doping? Das war die allererste Frage und dann lief der Apparat dazu zu Höchstformen auf.
'75 wurden Hundert National- und Anschlusskader im Geräteturnen, Ringen, Fechten, Volleyball, Wasserspringen, Eiskunstlaufen mit Hormonen gedopt. Highlight - Sie haben ja gesagt: nicht so speziell - B 17, Vitamintablette. Der Knackpunkt dabei war: Es war keine Vitamintablette, es waren Hormone. Das wurde nur so bezeichnet. 1975 ist der gesamte Olympia-Kader, 460 Sportler, auf Basis von Anabolika gedopt worden. Dynamo ebenso, im Wintersport 400 Sportler - um das Ausmaß auch mal zu erkennen! 1976 gab es einen kleinen Skandal bei SC Dynamo. Zwei Eiskunstläufer wurden erwischt, dass sie Anabolika genommen haben, obwohl der Plan das nicht vorsah. Da gab es einen Skandal und Aufruhr. Dann kam wieder die Stasi ins Spiel und alles lief im Kreis.
Skisprung, Skilanglauf, Eiskunstlauf - die hatten zu hohe Werte. Da wurden Zufallsproben gemacht, [die] ansonsten nur bei Ausreise [genommen wurden], damit man eben nicht sozusagen gedopt auffiel bei Veranstaltungen.
Im Rudern gab es ein Programm, das Programm 3. Das bedeutete zwei Spritzen vor dem Start, um Laktatwert und Ermüdung der Muskeln zu verzögern. Das bedeutete immerhin fünf bis acht Prozent Leistungszuwachs, weil das gespritzte Serum, was außerdem noch da drin war, körpereigene Enzyme enthielt, die den körpereigenen sehr ähnlich waren und nicht festgestellt werden konnten. Also gab es vor dem Start nochmal eine Dosis. Und dann gab es - ja, irrwitziger Name, wo der herkommt, weiß ich auch nicht - HOT. Da wurde Blut mit UV-Licht bestrahlt. 45 Kubikzentimeter Blut, Natrium Citricum und UV-Licht: erste Woche zwei Mal, zweite Woche ein Mal, dritte Woche ein Mal, vierte Woche ein Mal, danach monatlich ein Mal. Um praktisch sich die Höhentrainingslager so ein bisschen zu ersparen.
Im Boxen [bei] SC Dynamo gab es einen Sportler - das war auch ein bisschen dumm gelaufen -, der wurde ins normale Krankenhaus eingeliefert. Das war doof. Der hatte eine Leberentzündung und der Arzt hatte festgestellt: Der hat zu viel gedopt, deshalb ist das passiert.
SC Traktor Schwerin - übel: Da wurden zu viele Dopingmittel außerhalb der Konzeption gegeben. Diese Einhaltung der Konzeption war festgelegt, auch der Ablauf, wer wie wo was abholt, um entsprechend zu versuchen, das zu verhindern. Aber, wer gelernter DDR-Bürger ist, weiß auch, man kann das alles umgehen. Und das haben die Ärzte auch gemacht.
Letzte: Es gab ja immer Lehrgänge vor sportlichen Höhepunkten. Der Lehrgangsarzt hat das Dopingmittel verabreicht mit einem sogenannten "Entmüdungstrunk". Kohlenhydrate, Mineralstoffe, Vitamine waren da drinnen und dann natürlich auch Anabolika. Um die Menge festzuhalten, hat man da nicht hingeschrieben "fünf Milligramm OT", sondern hat in dieser Lehrgangsliste, die hab ich am Forschungsinstitut für Kultur und Sport in Leipzig gefunden, eine Stuhlgangsliste geführt. Zuerst habe ich mich gewundert: Was ist denn das hier? Macht der Striche beim Stuhlgang? Da dacht ich: Ist der völlig irre? Aber wo dann drei Striche waren, dachte ich: Das ist ja schon fast Durchfall! Und irgendwann bin ich dann in den Unterlagen drauf gekommen: So hat man das auch versucht, sozusagen geschickt zu tarnen. Und diese Mappen, wo die Ausgaben der Dopingmittel drin waren - wie sie aussahen, das weiß ich: die waren rot -, waren alle VS im Stahlschrank. Die hat dann der Chef von der sportärztlichen Hauptberatungsstelle im Auftrag vernichtet.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das war Silvia Oberhack, die jetzt im Doping-Opfer-Hilfe Verein arbeitet und dort in Archiven nach Dokumenten recherchiert, die das Staatsdoping belegen. Davor hörten wir Gesine Tettenborn, die als Gesine Walther in der DDR Rekorde im Sprint und in der Sprint-Staffel aufstellte und erst Jahre später sich mit dem Doping dieser aktiven Zeit beschäftigte, das sie heute gesundheitlich stark belastet.
Maximilian Schönherr: Unser Podcast endet jedes Mal mit einem akustischen Beispiel aus dem riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs. Wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Dafür, warum und wie jemand zum Mitarbeiter des MfS wurde, gibt es viele Gründe und Wege. Die einen kamen aus Familien, in denen schon meist Vater oder Bruder beim MfS waren, die anderen, weil sei keine Familien hatten und im MfS die Ersatzfamilie fanden. Die einen taten es aus freien Stücken, die anderen, weil sie erpresst und dazu gezwungen wurden. Die einen taten es aus Überzeugung für den Sozialismus, die DDR, die anderen aus Abenteuerlust, Nervenkitzel, Geltungssucht, Machtstreben, um des persönlichen und beruflichen Vorteils und letztlich auch des Geldes wegen. Und bei manchen war es eine Mischung aus Vielem. Es gab plumpe Selbstanbieter am Telefon, aber auch solche, von denen heute zu hören ist. 1970 berichtet der Inoffizielle Mitarbeiter für Sicherheit mit Decknamen "Udo" über ein Gespräch mit einem Programmierer des Wohnungsbaukombinats Karl-Marx-Stadt. Aus Datenschutzgründen habe ich dessen Namen anonymisiert. Wir hören von 71 Minuten knapp 4.
[Archivton Anfang]
IM "Jürgen Biermann": Es folgte darauf, auf dieses - äh, äh - Gespräch hin noch eine lebhafte Diskussion über die Methoden des Geheimdienstes. Wobei [anonymisiert] Folgendes äußerte: Ich finde die Arbeit eines Geheimdienstes aufregend, interessant. Wobei festzustellen ist, dass - äh, äh - diese Leute ja ooch [auch] viel gelernt ha'm [haben] und nur noch hochqualifizierte - äh - Menschen bei uns anzuwerb'n versuchen beziehungsweise anwerb'n. Das muss natürlich ooch eine Freude sein, hier denn Leuten entgegenzuarbeiten, und dabei zu mir gewandt sagte er: Wenn mich jemand ansprechen würde, von de' Staatssicherheit, so was Ähnliches zu arbeiten, ich würde zusagen. Ich würde da mitmachen. Mich interessiert so was. Erste' Mal interessant, aufregend und dann - äh - hat man ooch seine persönlichen Vorteile dabei.
Hinsichtlich des Vorteils sagte ich: Ja, kricht [kriegt] man denn so was bezahlt oder wie is' denn das überhaupt? Und lächelte mich an und sagte: - äh - Ich verfolge mit größter Int'resse irgendwelche Zeitungsmeldungen, Rundfunk- oder Fernsehberichte über Aufdeggung [Aufdeckung] beziehungsweise Arbeit irgendeines Geheimdienstmannes gleich welcher Art. Ob von uns, ob von de' - ähm - Sowjetniks oder ob vom amerikanischen Geheimdienst. Ich würde mitmachen. Uff [auf] [belustigt: meine [vermutlich: zierliche] Frage: Ooch beim amerikanischen Geheimdienst?] lachte er und sachte [sagte], es käme auf die Gage drauf an.
Festzustellen ist zu diesem Gespräch, dass [anonymisiert] der- - aufgrund seiner Qualifikation wohl in der Lache [Lage] ist, in seiner Funktion, die er - äh - hier bekleidet, einzuschätzen vermag, was seine Äußerung - äh - für Folgen haben kann. Ist - äh - hier die außergewöhnliche Intensität festzustellen, die er während dieses - äh, äh, hier - Gespräches hinsichtlich der sogenannten Anwerbung äußerte. Zumal die - äh, hier - Person des [anonymisiert] für irgendeinen Geheimdienst beziehungsweise nach seinen eigenen Angaben Staatssicherheit, interessant wäre, da in seiner Hand - äh - die Vorbereitung hier, beziehungsweise hier die Programmierung wichticher [wichtiger] Staatsplan-Vorhaben im Bezirk Karl-Marx-Stadt durch ihn - äh - durchgeführt werden und es letzten Endes an ihm liegt, ob irgendwelche H- - äh, äh, hier - beziehungsweise Feinzyklogramme im Bauablauf beziehungsweise überhaupt die Abstimmung des Bauablaufes richtich [richtig] erfolgt, da er ja d-die Möglichkeit hat, hinsichtlich der Veränderung eines - äh, hier - Programms 'ne ungeahnte Trachweite [Tragweite] auf die Fertigstellung beziehungsweise auf die Erschließung von Bauvorhaben hat. Es wäre also ohne Weit'res einzuschätzen, dass [anonymisiert], sollte er irgendeine - äh, hier - Tätigkeit im Geheimdienst haben, einen enormen Einfluss auf das Baugeschehen von Karl-Marx-Stadt und des zukünftichen [zukünftigen] Bauchgeschehen im - äh, hier - Perspektivzeitraum bis 1975, bis '80 ha'm.
[Archivton Ende]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten –
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."