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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Willkommen zu einer neuen Folge! Mein Name ist Maximilian Schönherr, ich bin zurzeit mehr Musiker als Rundfunk-Journalist. Und zusammen mit Dagmar Hovestädt, die die Abteilung Vermittlung und Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv leitet, bin ich Ihr Gastgeber des Podcast.
Dagmar Hovestädt: In diesem Jahr, 2022, ist es genau 30 Jahre her, dass die Einsicht in die Stasi-Unterlagen ermöglicht wurde. Voraussetzung dafür war ja die Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Am 2. Januar 1992 schauten also zum ersten Mal Menschen in die Unterlagen, die zu ihnen angelegt wurden. Dabei konnten sie erfahren, wie die Stasi im Hintergrund oder auch manchmal direkt erkennbar in ihr Leben eingegriffen hatte. Seither sind für diese persönliche Akteneinsicht zur Aufklärung des eigenen Schicksals über 3,4 Millionen Anträge im Stasi-Unterlagen-Archiv eingegangen. Dahinter stecken ungefähr etwas über zwei Millionen Menschen, denn viele haben über die Jahre einen Wiederholungsantrag gestellt. Da liegt die Differenz.
Maximilian Schönherr: Wiederholungsantrag ist was genau?
Dagmar Hovestädt: Na, wenn man zum Beispiel in den frühen 90er-Jahren ganz am Anfang einen Antrag zur eigenen Person gestellt hat, haben wir oft auch gesagt: Melden Sie sich ruhig in ein paar Jahren noch mal wieder, wir haben jetzt nichts gefunden oder nur eine Karteikarte, aber wir erschließen das Archiv über die Jahre immer besser und es lohnt sich einfach nochmal nachzufragen. Von den 3,4 Millionen hat ungefähr ein Drittel davon Gebrauch gemacht, sodass also dann eine wesentlich höhere Anzahl an Anträgen ist als an tatsächlichen Menschen. Manche stellen auch zwei- oder dreimal einen Wiederholungsantrag.
Maximilian Schönherr: Unter demselben Aktenzeichen?
Dagmar Hovestädt: Genau. Wenn man hier anfängt, dann kriegt man eine Tagebuchnummer. So nennen wir dieses Aktenzeichen. Und dann wird das immer miteinander verknüpft. Dann haben wir die Grunddaten schon mal da, das beschleunigt eigentlich die Bearbeitung.
Maximilian Schönherr: Zunehmend melden sich bei euch auch Menschen der nächsten Generation, die also das Schicksal ihrer Eltern oder Großeltern aufklären wollen und dazu auch nach Spuren in den Stasi-Unterlagen suchen. Wir haben darüber schon mal ganz am Anfang, in Folge 2, mit Anne Pfautsch gesprochen. Auch heute geht es um eine Tochter, die zu ihrer Mutter Unterlagen sucht. Mein Gespräch vor drei Jahren mit Anne Pfautsch hatte einen sehr persönlichen Charakter. Dein Gespräch mit Silvia Bergmann, das wir heute hören, ist auch sehr persönlich.
Dagmar Hovestädt: Ja, das kann man so sagen. Es ist ein sehr persönliches Gespräch über ihre Gründe für den Antrag und ihre Familiengeschichte. Aber weil sie auch so einige Fragen zur Antragstellung hatte, ist es im zweiten Teil ein recht praktisches Gespräch über unsere Antragsbearbeitung geworden.
Maximilian Schönherr: Silvia Bergmann ist eine Hörerin unseres Podcasts und hat sich mit ihrer Geschichte an uns gewandt, vor allem, weil sie dachte, dass ihre Fragen an den Prozess der Akteneinsicht sicherlich viele interessieren würden. Damit hatte sie recht. Ihr erwähnt einmal kurz die Abkürzung SSD. Mir ist eher SDS geläufig, der Sozialistische Deutsche Studentenbund. Das ist er aber nicht, ne?
Dagmar Hovestädt: Nee. SSD steht für Staatssicherheitsdienst. Das war eine Abkürzung für die Stasi, die ja offiziell in der DDR immer nur Ministerium für Staatssicherheit hieß. Ich wollte aber noch mal sichergehen, was es mit dieser Abkürzung auf sich hat, denn ich dachte, dass sie im Westen vor allem in den 1950er-Jahren benutzt wurde, um die Stasi noch mal besonders zu diskreditieren. In der Abkürzung SSD liegt ja eine klangliche Nähe zur NS-Zeit. Das hat mir einer unser Historiker, der sich in den 1950er-Jahren gut auskennt auch noch mal bestätigt. In den 1970er-Jahren verschwand dieser Begriff. Ich wollte aber auch noch herausfinden, ob die Adresse in Westberlin, die Silvia Bergmann nennt und unter der ihre Mutter nach ihrer Flucht 1953 lebte, wirklich eine Aufnahmestelle für Flüchtlinge war. Aber da bin ich nicht oder noch nicht fündig geworden.
Maximilian Schönherr: Dann lass uns mit dem heute zweiteiligen Podcast-Thema starten. Zunächst dein Gespräch mit der Antragstellerin auf Akteneinsicht Silvia Bergmann.
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Dagmar Hovestädt: Was genau war eigentlich der Auslöser, warum Sie sich entschieden haben, hier einen Antrag zu stellen unter diesem Paragrafen 15, also Schicksalsaufklärung zu nahen Angehörigen, die verstorben sind?
Silvia Bergmann: Ich wollte wissen, was meine Krankheit mit der Krankheit meiner Mutter zu tun hat. Ich habe vor einigen Jahren die Diagnose Depression erhalten und mich damit auseinandergesetzt, was denn meine Symptome sind, meine Krankheitssymptome, und bin dann gedanklich zurückgegangen in meine Kindheit und Jugend und habe auch bei meiner Mutter einige dieser Symptome wiedererkannt und möchte gerne aus den Akten ein bisschen mehr über das Leben meiner Mutter wissen, in ihren frühen Jahren. Sie ist 1953 geflüchtet, aus Ostberlin nach Westberlin, da war sie 24 Jahre alt. Das kam mir als Kind natürlich sehr alt vor. Ich bin auch mit dem Wissen aufgewachsen, dass meine Mutter irgendwann die DDR verlassen hat und nach Westberlin gegangen ist, und habe mir da eigentlich keine großen Gedanken gemacht.
Dagmar Hovestädt: Als Kind erlebt man das ja nicht. Man hat ja keine Vorstellungswelt, was es heißt, zu flüchten und die Heimat hinter sich zu lassen, woanders zu sein. Selbst Ost-/Westberlin, Ost-/Westdeutschland war als Kind - Sie sind am Niederrhein aufgewachsen - jetzt auch nicht so eine tägliche Präsenz.
Silvia Bergmann: Tatsächlich war es für mich so, dass ich sehr lange Ostberlin für die DDR gehalten habe. Also, heute habe ich Orte wie Rostock, Leipzig, Dresden, Eisenach, Weimar besucht und finde die wunderschön. Aber ich muss tatsächlich sagen: Für mich in meinem Leben hat es früher erst mal nur Ostberlin gegeben, auch durch die Erzählungen meiner Mutter.
Dagmar Hovestädt: Ihre Mutter ist in Ostberlin geboren?
Silvia Bergmann: Genau. Sie ist 1929 geboren, in Berlin. Und ob sie in Ost- oder Westberlin geboren ist, das hat überhaupt gar keine Rolle gespielt. Für meine Mutter gab es immer nur Berlin, also das Berlin ihrer Kindheit. Darüber hat sie viel erzählt. Und ich habe mir tatsächlich die Flucht meiner Mutter gar nicht so sehr als Flucht früher vorgestellt, sondern ich wusste halt, die Mauer ist erst 1961 gebaut worden. Und meine Mutter hat mir gesagt, früher gab es auch noch in Ost und West ein gemeinsames ÖPNV-Netz und man konnte sich im Osten in die S-Bahn setzen und in den Westen fahren. Und so habe ich mir das vorgestellt, dass die Mama irgendwann mal gesagt hat: So, mir reicht's jetzt hier in der DDR, das ist ein unfreies System, so will ich nicht leben, hier will ich nicht leben. Ich habe mir vorgestellt, sie hat dann den Entschluss gefasst zu gehen, ihren Koffer gepackt, hat sich in Ostberlin in die S-Bahn gesetzt und ist nach Westberlin gefahren und hat dann abends da bei ihrem Onkel auf der Couch gesessen. So habe ich mir das vorgestellt. Also gar nicht als Flucht, sondern einfach als bewusste Entscheidung: Ich gehe, hier will ich nicht leben. Und das hat mir nun mal ungemein imponiert, muss ich sagen. Ich fand, meine Mutter war super taff und dachte: Wow, da hat sie eigentlich schon ein Wissen gehabt in jungen Jahren über das politische System. Also, ich fand das unheimlich cool, das hat mir unheimlich imponiert und das hat meine Mutter für mich sehr stark wirken lassen. Und ich habe dann aber in meinem täglichen Leben, im Umgang mit meiner Mutter diese Stärke nicht wiedergefunden. Also, wie gesagt, meine Mutter war auch an Depression erkrankt. Das habe ich dann in ihrem Nachlass auch gesehen, die entsprechenden Arztbriefe. Meine Mutter ist im vergangenen Jahr gestorben und ich habe ihren Nachlass erhalten und habe also gesehen, dass meine Mutter Mitte der 80er-Jahre tatsächlich diese Diagnose Depression auch erhalten hat. Und ich habe als Kind meine Mutter eher als nervösen Menschen kennengelernt, ja, manchmal auch antriebslos und gar nicht so stark, wie ich mir diesen jungen Menschen vorgestellt habe, der gesagt hat: So, mir reicht es jetzt hier, ich gehe jetzt.
Dagmar Hovestädt: Aber diese DDR-Erzählung muss ja Teil der Familiengeschichten gewesen sein, sonst wüssten sie das nicht so genau. Sie sagen, sie haben sich das so vorgestellt. Aber irgendwo - ihre Mutter hat es ja nicht verschwiegen - ist es ja Teil der Geschichte der Familie geworden.
Silvia Bergmann: Ja, aber nicht so systematisch wie wir beide jetzt hier sitzen. Wir haben uns verabredet, dass wir heute über dieses Thema sprechen wollen. Und so läuft ja Familienleben eigentlich nicht ab, sondern man hat keinen gemeinsamen Gesprächskontext, sondern da werden Informationen übermittelt, vielleicht auch völlig aus dem Zusammenhang, die ich als Kind gar nicht einordnen kann. Also, ein Beispiel ist, dass wir zu Hause Hunde hatten. Ich bin auch mit Hunden aufgewachsen und die Hunde waren irgendwie immer ein Thema in der Familie. Und dann hat meine Mutter erzählt, dass sie früher auch einen Hund hatten in der Familie. Also, früher war für mich-- Ich konnte das nicht zeitlich einordnen, ob meine Mutter da ein Kind war, Jugendliche oder junge Erwachsene schon. Sie hat gesagt, sie hatten damals einen Hund und dieser Hund hat aufs Wort gehört. Und sie ist mit ihrer Mutter abends im Dunkeln in den Park gegangen, um sich ungestört unterhalten zu können, um nicht bespitzelt zu werden. Und sie haben den Hund mitgenommen, der war nicht angeleint. Und wäre ihnen jemand zu nahe gekommen, ohne dass sie diesen Jemand gesehen hätten, dann hätte der Hund angeschlagen und hätte den vertrieben. Meine Mutter wollte damit nur zum Ausdruck bringen, was das für ein toller Hund war. Und bei mir ist angekommen: Wieso muss man, um sich mit seiner Mutter unterhalten zu können, im Dunkeln in den Park gehen? Das war mir als Kind völlig unverständlich. Wieso kommt jemand auf die Idee, bespitzelt zu werden? Wer sollte das tun? Und tatsächlich ist es erst vor drei, vier, fünf Jahren, kurz vor dem Tod meiner Mutter, wirklich für mich ersichtlich gewesen, dass das ihre Fluchtgeschichte war. Sie ist mit meiner Großmutter abends in den Park gegangen - das muss in der Nähe vom Alex gewesen sein, da hat die Familie gelebt -, um über ihre Fluchtpläne zu sprechen. Und um da nicht bespitzelt zu werden, sind sie im Dunkeln in den Park gegangen. Das macht natürlich, wenn man ein Erwachsener ist von Mitte 40, Sinn, auch nach der Wiedervereinigung. Wir wissen jetzt, was die Stasi alles gemacht hat. Wir können das besser einordnen. Aber als Kind der 70er-, 80er-Jahre habe ich mir vorgestellt: Warum tun die das? Das ist doch seltsam. Also, diese Geschichten, die meine Mutter erzählt hat, die empfand ich als seltsam. Die haben keine Klärung in mein Leben gebracht, sondern die haben eigentlich eher gezeigt, dass meine Mutter irgendwie anders ist als die Mütter meiner Schulfreundinnen.
Dagmar Hovestädt: Sie hatten dann keine Gelegenheit, mal nachzufragen, warum das ausgerechnet die Erinnerung ist, die bei dem Thema Hund hochkommt?
Silvia Bergmann: Tatsächlich habe ich das als Kind und Jugendliche nicht gemacht. Ich hatte ein eher konfliktreiches Verhältnis zu meiner Mutter. Das hat sich dann gebessert, als ich mit Anfang 20 ausgezogen bin und zum Studieren nach Düsseldorf gegangen bin. Dann hat es doch einige Jahre der Annäherung gegeben und dann haben wir uns irgendwann total gut verstanden. Und ich muss sagen, so in dieser Zeit der Annäherung wollte ich dann nicht durch irgendwelche Fragen dieses Verhältnis wieder auf Spannung bringen. Also, ich will jetzt nicht sagen, dass ich das bewusst gemacht habe. Ich glaube, das ist eher unbewusst gelaufen. Und die letzten Jahre habe ich tatsächlich mit meiner Mutter häufiger gesprochen. Und warum gerade bei dem Thema Hund für meine Mutter das so präsent war, das sind Fragen, die man sich dann stellt, wenn es zu spät ist, die man aber in der Situation gar nicht stellt.
Dagmar Hovestädt: Das ist ja eine schöne Sache gewesen, dass Sie Gelegenheit gefunden haben, mit Ihrer Mutter in den älteren Jahren einfach ein Stück weit darüber zu reden. Die DDR muss ja trotzdem eine relative Präsenz gehabt haben, auch in ihrer westdeutschen Kindheit.
Silvia Bergmann: Ja, und zwar immer dann, wenn wir tatsächlich Ostberlin besucht haben. Ich bin mit meinen Eltern einige Male in Westberlin gewesen. Wir sind dann meistens geflogen. Die Transitstrecke hat meine Mutter gemieden. Und dann sind wir über die Friedrichstraße von Westberlin für Tagesausflüge nach Ostberlin zu unseren Verwandten gefahren.
Dagmar Hovestädt: Wann war das ungefähr? 70er, 80er?
Silvia Bergmann: Ja, das war Ende 70er- bis Mitte der 80er-Jahre. Es waren schon einige Besuche, die wir gemacht haben, ja. Und das war natürlich dann ein großes Thema: Wir fahren nach Berlin. Das war natürlich toll. Für meine Mutter war ihre Heimatstadt der Ort schlechthin. Ich war auch eine ganze Zeit lang echt sauer auf meine Eltern, dass sie kurz vor meiner Geburt nach Westdeutschland übergesiedelt sind, weil ich gedacht habe: Boah, Westberlin wäre toll gewesen, hier wäre ich gerne aufgewachsen. Und deshalb war natürlich, nach Berlin zu reisen, großartig. Also, natürlich auch mit dem Flugzeug - das war mega aufregend. Und ja, für meine Mutter war es erst mal schön aufregend, aber je näher dieser Reisetermin kam, desto aufgeregter war sie, desto nervöser war sie. Und das hat dann diese Präsenz ausgemacht, dass meine Mutter dann fahrig wurde, nervös, gereizt, gestresst und ich das nicht verstanden habe. Das war ein Teil der Präsenz und ansonsten eher durch Abwesenheit, weil ich eine relativ große Verwandtschaft in Ostberlin hatte und die einfach abwesend war.
Dagmar Hovestädt: Also weil sie nicht hingefahren sind und auch bei den Besuchen in Ostberlin nur einen kleineren Teil der Verwandtschaft gesehen haben?
Silvia Bergmann: Also, das hat ja immer mit dem beruflichen Kontext des jeweiligen Verwandten zu tun, ob der seine geflüchtete Westverwandtschaft sehen will oder darf oder sich vielleicht gerade selber auch in Gefahr begibt.
Dagmar Hovestädt: Das wussten Sie damals schon, dass Sie gefährlich werden konnten für eine Verwandtschaft in der DDR?
Silvia Bergmann: Ich bin mir nicht sicher, ob ich das damals schon wusste, tatsächlich. Ich glaube eigentlich eher nicht, sondern der Gesamtkontext Reise war für mich aufregend.
Dagmar Hovestädt: Und dann waren Sie in Ostberlin und ihre Mutter durfte tatsächlich trotz der Flucht, die schon lange zurücklag, auch wieder einreisen. Aber Sie vermuten schon, dass auch die Nervosität und diese Ungewissheit, die mit der Rückkehr in die DDR für Ihre Mutter verbunden war, für die vielleicht auch eine Angstsituation dargestellt haben.
Silvia Bergmann: Ja, das hat sie tatsächlich so auch gesagt. Sie hat dann versucht, mich zu beruhigen, indem sie mir gesagt hat, dass mein Vater nicht mit nach Ostberlin gehen würde, sondern in Westberlin bleiben und dass er auch eine Kopie meines Reisepasses hätte und auch meine Geburtsurkunde. Und meine Eltern haben dann einen Zeitpunkt X ausgemacht, zu dem wir wieder zurückerwartet werden. Meine Mutter hat mir auch gesagt, wenn sie verhaftet würde in Ostberlin, dann würde ich in ein Kinderheim kommen. Aber mein Vater in Westberlin würde schon alles in Bewegung setzen, um mich da wieder rauszuholen. Das sollte mich wohl beruhigen, hat mir aber eigentlich, ehrlich gesagt, ziemlich viel Angst gemacht, weil ich mir die Frage gestellt habe: Warum sollte meine westdeutsche Mutter in der DDR verhaftet werden? Was hat sie denn gemacht? Sie hat ja nichts gemacht, außer dass sie gesagt hat: Ich will in Ostberlin nicht mehr leben, sondern ich will in Westberlin leben. Mehr hat sie nicht gemacht aus meiner Sicht. Hat sie ja wirklich nicht gemacht. Deshalb war das für mich auch unheimlich angstbesetzt. Also, wir sind ja dann wirklich in die S-Bahn gestiegen, sind Friedrichstraße ausgestiegen, haben die Passkontrollen über uns ergehen lassen, was für mich wirklich furchtbar war. Ich erinnere das, ja, als sehr unangenehmen Ort. Also, mir kam das immer vor wie eine Art Viehwaggon, wo an der einen Seite eine Tür ist, die wird aufgemacht, man geht als Kind durch, also wirklich als Kind. Meine Mutter war ja nicht an meiner Seite. Dann geht die Tür zu. Vorne die Tür, die Ausgangstür, kann man schon sehen, aber sie ist noch zu. Und man muss dann wirklich als Kind seinen Pass hochgeben. Also, die Grenzbeamten saßen erhöht.
Dagmar Hovestädt: Ja.
Silvia Bergmann: Ich kann das mal vormachen. Man kann es im Podcast nicht sehen, aber ich musste wirklich so hoch meinen Pass da hochlegen.
Dagmar Hovestädt: [lacht leicht] Die Hand passte gerade so auf die Theke.
Silvia Bergmann: Ja, genau. Und ich weiß nicht, ob ich versucht habe, freundlich zu sein. Als Kind neigt man ja dazu, dann die Erwachsenen anzulächeln, da kam aber nichts zurück. Also, ich habe mich irgendwie schuldig gefühlt, obwohl ich nichts gemacht hatte. Ich habe gedacht, das ist hier irgendwie eine bedrohliche Situation. Ich habe mich sehr unwohl gefühlt, es wurde auch nicht gesprochen, man hat nicht "Danke", "Bitte" oder "Jetzt kannst du da rausgehen" gesagt. Es wurde, meiner Erinnerung nach, gar nicht mit mir gesprochen in dieser Art Schleuse, so würde ich es mal nennen, sondern es ging die Tür auf und dann war ich in der DDR. Dann ging die Tür wieder zu und ich habe auf diese Tür gestarrt und gehofft, dass meine Mutter da rauskommt.
Dagmar Hovestädt: Sie sind zuerst gegangen?
Silvia Bergmann: Ja, tatsächlich. Und das war für mich eine sehr bedrohliche Situation, das muss ich sagen.
Dagmar Hovestädt: Es war schon keine einfache Reise in die DDR. Aber Ihre Mutter wollte doch offensichtlich, dass Sie dort mit der Verwandtschaft in Kontakt kommen, ne?
Silvia Bergmann: Ja, für meine Mutter war tatsächlich das Credo ihres Lebens: Familie ist alles. Das ist mir selber in meiner Kindheit und Jugend gar nicht so bewusst geworden. Aber als meine Mutter dann selber Großmutter wurde, da war das sehr ersichtlich. Da ist sie sehr aufgegangen in dieser Rolle und wollte immer in der Nähe ihrer Familie, ihrer Nachkommen, sein. Das war für meine Mutter immens wichtig. Ich habe mir tatsächlich irgendwann mal die Frage gestellt: Wenn für meine Mutter Berlin ein so toller Ort war, warum ist sie nicht wieder zurückgegangen? Aber das hat sie deshalb nicht gemacht, weil ihre Familie, also die, die sie selber gegründet hatte, ja dann am Niederrhein gelebt hat. Und deshalb ist sie dort geblieben. Für meine Mutter war Familie immens wichtig und deshalb wollte sie ihre Mutter wiedersehen. Mein Großvater ist im Krieg geblieben, meine Mutter hat jüngere Geschwister gehabt, an denen hing sie sehr. Sie hat sehr von ihrer Schwester und von ihrem Bruder erzählt. Und ich glaube, dieser Drang, ihre Familie zu sehen, der war größer als die Angst.
Dagmar Hovestädt: Das heißt ja eigentlich, mit dem Jahr 1990 oder spätestens 1991 - DDR wirklich verschwunden, das Ganze aufgelöst, die Stasi sozusagen entmachtet, die Akten in der Hand der Menschen und bald auch dann für jeden einsehbar - müsste doch eigentlich dann alles weit offen gewesen sein und auch die DDR oder die ehemalige DDR dann wieder ein größerer Teil der Familie geworden sein.
Silvia Bergmann: Ja, tatsächlich war das auch so, dass wir uns gegenseitig besucht haben, dann einige Jahre ein ganz enger Kontakt bestanden hat. Meine Großmutter ist leider 1987 verstorben. Meine Mutter ist auch nicht zu ihrer Beerdigung gefahren, weil sie wirklich Angst hatte. Und ja, da hat es einen engen Kontakt gegeben. Ich habe meine Mutter dann auch gefragt, schon in den Nullerjahren, ob sie nicht in ihre Stasi-Akte gucken möchte. Sie hat gesagt: Nein, das möchte sie nicht, weil für sie ist die DDR Geschichte und sie möchte ohne Groll sein, sie möchte jetzt gar nicht wissen, wer sie wann wo wie bespitzelt hat, das würde sie nur aufregen und sie könnte es ja doch nicht mehr ändern, sondern sie würde gerne nach vorne schauen. Und das ist tatsächlich etwas, was in unserer Familie auch gelebt wurde: dieses "Wir schauen nach vorne". Wir waren eine sehr in die Zukunft gerichtete Familie, also: Das Kind muss einen guten Beruf erlernen, muss fleißig sein, es ist wichtig, dass aus uns etwas wird. Aber die Rückschau in die Vergangenheit wurde bei uns zu Hause so nicht gelebt, tatsächlich.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, das durchbrechen Sie aber jetzt gerade, weil Sie schauen ja zurück. Der Tod Ihrer Mutter - nehme ich an, weil Ihr Antrag ist im letzten Jahr gestellt worden - hat Sie dazu bewegt zu sagen: Ich möchte aber in die Stasi-Akten schauen.
Silvia Bergmann: Ja, genau. Also, ich bin jetzt diejenige in der Familie, die zurückschaut.
Dagmar Hovestädt: Warum ist das für Sie wichtig, damit auch zu brechen und nicht zu sagen: Ist schon richtig, nach vorne zu schauen ist wichtiger als zurückzuschauen.
Silvia Bergmann: Weil ich durch eine Therapie in Bezug auf meine Krankheit, meine Depression, festgestellt habe, dass es wichtig ist, zurückzuschauen und auch Klarheit zu haben. Und zwar weiß ich heute gar nicht, was mich da erwartet, wenn ich zurückschaue. Aber alleine dieser Prozess des Zurückschauens, der ist schon heilsam, den empfinde ich als positiv, weil, wie Sie sagen, ich durchbreche da gerade etwas. Also, diese Spirale des Schweigens, die durchbreche ich gerade und merke auch, dass da eine Dynamik, ein Prozess in Gang kommt in der Familie, indem ich auch sage, ich möchte ganz bewusst diesen Antrag nicht im Verborgenen stellen, sondern mit meiner Familie darüber sprechen, dass ich diesen Antrag gestellt habe, nicht wissend, wie die einzelnen Familienmitglieder darauf reagieren. Es haben alle positiv darauf reagiert, aber es hätte auch anders sein können. Das konnte ich im Vorfeld nicht abschätzen. Das heißt, auch diese Dynamik, dieser Prozess, der jetzt in unserer Familie in Gang kommt, den empfinde ich als sehr heilsam. Ich beschreibe das gerne mit einer Art Reise. Ich habe irgendwann mal in meinem Leben auch den Entschluss gefasst, ich möchte mich auf die Reise begeben in Richtung Mentale Gesundheit und gesünder leben. Und dafür ist es wichtig zurückzuschauen, aber natürlich auch nach vorne zu schauen und dabei aber auch die Familienmitglieder mitzunehmen. Mein Umfeld, mein privates Umfeld mitzunehmen, das ist für mich sehr, sehr heilsam. Und das kann ich tatsächlich an konkreten Symptomen festmachen. Ich bin ein Mensch, der häufig an Kopfschmerzen leidet, und das ist tatsächlich zurückgegangen, seit ich vor einigen Jahren angefangen habe, auch Fragen zu stellen und die Antworten auf mich sacken zu lassen. Und dass ich diesen Antrag gestellt habe, das zeigt mir, dass ich meiner Mutter viele Fragen nicht gestellt habe, als sie noch gelebt hat. Aber ich habe auch Familie, die ja noch lebt, sodass ich sage: Ah, Moment mal, da habe ich vielleicht eine Chance vertan, damals bei meiner Mutter, aber ich habe die Chance, anderen Familienmitgliedern ähnliche Fragen zu stellen. Und das macht ganz viel im familiären Miteinander.
Dagmar Hovestädt: Sie haben eben gesagt, dass Sie gelernt haben, dass man Klarheit braucht über das Gestern für das Heute und Morgen. Und das heißt? Erhoffen Sie sich Klarheit, indem Sie schauen, ob es Unterlagen zu Ihrer Mutter gibt an der Stelle, aus den Stasi-Unterlagen hier?
Silvia Bergmann: Ja, ich habe den Antrag ganz konkret gestellt, auch, weil ich wissen möchte: Wie nah war die Stasi an uns dran? Sind wir als westdeutsche Familie in Westdeutschland bespitzelt worden? Hat es wirklich konkrete Gefahren für mich auch gegeben, im Waisenhaus zu landen? Wie nah war die Stasi dran? Also, warum ist meine Mutter nicht verhaftet worden? Hatte die Stasi sie einfach nicht mehr auf dem Radar? War es der Stasi egal, dass meine Mutter in die DDR eingereist ist? Oder gab es vielleicht gerade zu dem Zeitpunkt, wo wir eingereist sind, politische Gründe für die Stasi, meine Mutter eben nicht zu verhaften, weil das natürlich in den Medien auch Wellen geschlagen hätte?
Dagmar Hovestädt: 1953 ist ja nicht irgendein Jahr in der DDR, ne? Im Juni ist der Volksaufstand, große Kritik am Regime, es bricht beinahe zusammen, weil die Leute sagen: Wir wollen das alle gar nicht. Das setzt ja ein bisschen voraus, dass Ihre Mutter etwas getan haben müsste, was das Interesse der SED, des Staates oder auch der Stasi so lange festsetzt, dass sie auch noch Jahrzehnte später, dann in den 70er-, 80er-Jahren, so in der Gefahr sein konnte. Es kann ja sein, dass sie das für sich so erlebt hat. Wer weiß, ob es wirklich so war, ne?
Silvia Bergmann: Tatsächlich ist es so, dass ich im Nachlass meiner Mutter eine Begründung gefunden habe, warum sie geflüchtet ist. Und zwar war es eben nicht so, dass sie einfach nur in die S-Bahn gestiegen ist und dann abends bei ihrem Onkel saß, sondern meine Mutter ist in das Lager Kronberger Straße 20 in Westberlin gegangen nach ihrer Flucht. Sie musste dort auch eine Begründung abgeben, warum sie geflüchtet ist. Sie hat dann Aufenthaltsgenehmigungen, würde man wahrscheinlich heute sagen, mit Datum vom 3. November 1953 bekommen von den Westberliner Behörden und sie hat dort zu Protokoll gegeben, dass sie zu Spitzeltätigkeiten aufgefordert worden ist. Ich glaube, in Westdeutschland hat man das nicht MfS genannt, sondern SSD.
Dagmar Hovestädt: Staatssicherheitsdienst. Haben sie so abgekürzt, ja.
Silvia Bergmann: Okay.
Dagmar Hovestädt: Das Wort Stasi oder das Ministerium für Staatssicherheit sind ja Begriffe, die wir heute sehr normal verwenden. In den 50er-, 60er- und 70er-Jahren, würde ich auch sagen, waren das nur ausgewählte Leute, die das genauer wussten. Oder dann auch Menschen, die aus politischen Gründen inhaftiert und dann im Westen gelandet sind und da ein bisschen vielleicht auch in den Fängen der Stasi gesessen haben. Die werden das schon genauer erzählt haben.
Silvia Bergmann: Also, ich selbst habe vom MfS oder Stasi erst nach der Wende gehört, tatsächlich. Und bei uns zu Hause wurde auch nie von der Stasi gesprochen, sondern immer nur: die DDR. Also die DDR war etwas sehr Diffuses für mich.
Dagmar Hovestädt: Ach so, das heißt, auch von der auf dem Papier Ihrer Mutter damals in der Ausreise benannten Spitzeltätigkeit hat sie selber nie erzählt?
Silvia Bergmann: Sie hat mir das tatsächlich einige Jahre vor ihrem Tod gesagt, dass sie Kontakt zum MfS hatte, dass man sie zu Spitzeltätigkeiten ermuntert, aufgerufen, aufgefordert hat, wie auch immer. Das weiß ich eben noch nicht, das ist etwas, was ich mir erhoffe durch die Akteneinsicht. Ich kann das anhand des Lebenslaufes meiner Mutter sehen, dass sie quasi Karriere gemacht hat in der DDR. Sie hat sich da auch sehr wohlgefühlt, sie hat in einer Gewerkschaft gearbeitet. Und zwar hat sie diese Tätigkeit angefangen am 1. Juni 1953. Und meine Vermutung ist, dass sie mit dieser neuen Tätigkeit im Hauptberuf im Grunde ja als inoffizielle Mitarbeiterin angeworben worden war. Und meine Mutter hat mir gesagt, dass sie aufgefordert gewesen ist, über ihre Dienstreisen Bericht abzulegen. Das hat sie auch gemacht, und zwar inhaltlicher Art. Also, meine Mutter hat dann, so wie ich das wahrscheinlich auch machen würde [belustigt], konstruktive Vorschläge gemacht: Was kann man verbessern? Also inhaltlicher Art. Und man war wohl nicht sehr zufrieden mit ihren Berichten, sondern sie sollte dann eben Fragen stellen wie: Schaut jemand Westfernsehen, was für Klamotten trägt jemand, worüber wird vielleicht abends an der Bar gesprochen? Und das waren alles Dinge, die meine Mutter ja schon aus dem Nationalsozialismus kannte. Und den Nationalsozialismus hat meine Familie sehr abgelehnt. Also, das war etwas, was man nicht wieder haben wollte: dieses Bespitzeln, sich gegenseitig zu kontrollieren. Das war ein System, das meine Familie abgelehnt hat. Und so hat meine Mutter relativ schnell gemerkt, dass sie da auf einem ganz, ganz falschen Weg ist. Nichtsdestotrotz vermute ich auch noch, dass ich den Akten irgendwie eine konkrete Gefahr entnehmen kann, weil, wie gesagt, meiner Mutter die Familie sehr wichtig war. Sie hat sicherlich auch gewusst, dass sie ihre Familie damit in Gefahr bringt. Nach der Flucht meiner Mutter ist meine Großmutter sehr häufig verhört worden und das wird meine Mutter im Vorfeld gewusst haben.
Dagmar Hovestädt: War ja auch wirklich keine einfache Zeit. Wenn sie am 1. Juni 1953 als Sekretärin in der Gewerkschaft oder als Mitarbeiterin beginnt, dann ist das gerade mal gute zwei Wochen vor dem Aufstand. Und alles, was dann im Nachgang zum Aufstand entdeckt wird und nicht mehr konform ist und gar nicht mehr passt, kann sofort ja politisiert werden, mit dem Aufstand in Verbindung gebracht werden und dann ist man ganz schnell bei so Kategorien wie Hochverrat und Staatsumsturz. Und da muss man tatsächlich ein bisschen aufpassen.
Silvia Bergmann: Ja, also ich vermute tatsächlich, dass meine Mutter für sich und ihr Leben eine ganz konkrete Gefahr gesehen hat, also nicht nur irgendeine diffuse Gefahr und nicht nur die grundsätzliche Ablehnung des politischen Systems, sondern dass sie wirklich für sich Gefahr gesehen hat. Und tatsächlich ist es so, dass meine Mutter dann einen Flüchtlingsausweis bekommen hat, nachdem sie in Westberlin war. Sie hat dort in dem Lager, weil sie gelernte Kinderpflegerin war, als Erzieherin gearbeitet. Sie hat Englisch gelernt und hat relativ bald einen guten Job bekommen bei einer Familie, die zur amerikanischen Botschaft gehörte, also zum Botschaftspersonal. Und diese Familie wollte dann nach Den Haag ausreisen. Also, der Vater hat wahrscheinlich den Job gewechselt, ist nach Den Haag gegangen und meine Mutter wollte von Westberlin aus einen Pass beantragen. Nachdem sie das gemacht hat, ist sie wohl zweimal nur ganz knapp einer Entführung entkommen, also Mitte der 50er-Jahre. Meine Mutter hat gesagt, dass-- Für mich als Kind, diese Geschichte zu hören, klang eher wie so eine Agentengeschichte: Männer in Trenchcoats oder dunklen Mänteln sind aus irgendeinem Auto ausgestiegen, sind auf sie zugelaufen, meine Mutter ist weggerannt. Beim ersten Mal ist sie wohl einfach weggerannt und entkommen. Beim zweiten Mal kam wohl zufällig gerade ein amerikanisches Militärfahrzeug die Straße entlang und dann hat sie sich mehr oder weniger vors Auto geworfen. Also, nicht wirklich geworfen, aber sie ist wohl auf die Straße gesprungen und dann quasi auch der Entführung entkommen.
Dagmar Hovestädt: Das hat sie erzählt?
Silvia Bergmann: Ja, das hat sie.
Dagmar Hovestädt: In ihren früheren Jahren oder späteren Jahren?
Silvia Bergmann: In den früheren Jahren, als ich noch Jugendliche war. Und tatsächlich hat das nicht gerade dazu beigetragen, die Glaubwürdigkeit meiner Mutter zu untermauern, weil ich ganz ehrlich sagen muss, dass ich mir eigentlich eine ganz normale westdeutsche Familie gewünscht habe, eine ganz "normale" - in Anführungszeichen - westdeutsche Mutter und Hausfrau, wie man das so aus dem Werbefernsehen der 70er- und 80er-Jahre kennt: die Mama immer ganz adrett und der Kaffee schmeckt immer lecker und die hat immer gute Laune. So war es halt bei uns zu Hause nicht. Und dass meine Mutter solche Geschichten erzählt hat, das hat mich wirklich verwirrt.
Dagmar Hovestädt: Mh-mh. Es ist, historisch gesehen, nicht auszuschließen. Also, es gab ja eine ganze Reihe an Entführungen von Kritikern des Regimes und von der Stasi oder der Partei definierten Feinden, die tatsächlich aus Westberlin auf offener Straße gekidnappt wurden und in die DDR gebracht wurden, oft dann auch Jahre im Knast saßen, manchmal sogar zum Tode verurteilt wurden. Also, 50er-Jahre - da ist das nicht auszuschließen. Da müsste man schon wissen, was eigentlich dazu geführt hat, dass Ihre Mutter so eine Zielscheibe sein konnte. Wie auch immer, sie hat es so erlebt und da kann man einfach sehen, ob es tatsächlich dazu Unterlagen gibt oder nicht. Das muss man einfach mal sehen. Sie haben den Antrag letztes Jahr im Herbst gestellt, das dauert bei uns immer ein bisschen. Sie haben aber - und deswegen sitzen wir ja auch hier - gesagt, dass Sie das interessieren würde, was eigentlich passiert, wenn der Antrag hier eingegangen ist, und was wir dann eigentlich machen. Und das hat mich wiederum dazu geführt zu sagen: Gute Idee, vielleicht können wir das einfach mal in einem Gespräch mit einer Kollegin und mit Ihnen zusammen rausfinden. Und das werden wir jetzt als Nächstes tun und werden mal zu einer Kollegin gehen, die im Bereich dieser Auskunft ein Referat leitet, das eben mit persönlichen Akteneinsichten zu tun hat. Und vielleicht kann sie Ihnen und mir dabei auch ein bisschen helfen, noch mal zu erklären, was eigentlich passiert und warum man etwas länger wartet.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Dagmar Hovestädt: Wir haben's geschafft, sind die Treppe runtergestiegen in das Büro von meiner Kollegin Sabine Schröder und Sie, Frau Bergmann, haben ein paar Fragen mitgebracht darüber, was passiert, wenn man einen Antrag hier einreicht, und was wir eigentlich die ganze Zeit machen, bis Sie sozusagen an die Akte kommen. Wir legen einfach mal los, oder?
Silvia Bergmann: Ja.
Dagmar Hovestädt: Dann legen Sie gerne los.
Silvia Bergmann: Jetzt muss ich überlegen.
Dagmar Hovestädt: Also, ich hab ja Ihre Fragen schon vorher gefunden gehabt und da könnte ich sagen-- [leise weibliche Stimmen und Lachen im Hintergrund] Macht gar nichts, ich hab den extra ja mitgebracht. Eine der ersten Fragen war natürlich - wenn man einen Antrag stellt, kommt er bei uns in die Poststelle: Was passiert denn eigentlich da in der Poststelle?
Sabine Schröder: Die Poststelle öffnet Ihren Brief und entnimmt den Antrag und schaut, an welchen Fachbereich der Antrag geht. In Ihrem Fall bleibt er hier in Berlin, geht dann in ein Referat und dann geht er als nächste Stelle sozusagen in die Registratur. Die Registratur erfasst den Vorgang, vergibt ein Geschäftszeichen hier bei uns in der Behörde. Das nennt sich auch so ein bisschen altmodisch "Tagebuchnummer", ist aber ein verwaltungsorganisatorischer Begriff. Und da werden dann die Personendaten erfasst: zu Ihnen und - wenn Sie einen Antrag zur verstorbenen Mutter stellen - natürlich auch die Personendaten der verstorbenen Mutter. Das hat zur Folge, dass man, wenn Sie später mal Wiederholungsanträge stellen, nicht wieder alles neu macht, sondern dass man Ihnen dann praktisch Ihr altes Geschäftszeichen wieder gibt.
Dagmar Hovestädt: Dann misch' ich mich noch mal kurz ein. Das hat auch zur Folge, dass wir, seit diese Behörde geöffnet worden ist und eine Antragstellung möglich ist, im Grunde genommen jeden einzelnen Antrag, der hier eingegangen ist, in einer gesamten Zentralregistratur festgehalten haben und immer auch sagen können, mit welcher Tagebuchnummer welche Unterlage eingesehen worden ist.
Silvia Bergmann: Und der Antrag bleibt hier in Berlin, weil meine Mutter hier in Berlin gelebt hat?
Sabine Schröder: Sie können selbst entscheiden, wo Sie möchten, dass der Antrag bearbeitet wird. Wir haben ja noch die Außenstellen, in denen Anträge bearbeitet werden können. Wenn Sie jetzt zum Beispiel in Thüringen wohnen und sagen, Erfurt wäre Ihnen lieber, könnten Sie auf dem Antrag vermerken: Ich möchte gern, wenn es denn Unterlagen gibt, zur Einsicht nach Erfurt kommen. Dann wird der Antrag in Erfurt bearbeitet, aber überall wird das Gleiche abgefragt, so wie wir in der Zentrale. Wenn Sie in den alten Bundesländern wohnen, ist es meistens so, dass die sowieso hier in der Zentrale bleiben und dann hier bearbeitet werden. Dann geht also der Antrag an den Fachbereich und wir gucken noch mal, ob die Personendaten, die maschinell übernommen wurden, identisch sind mit dem, was Sie geschrieben haben, ob es Schreibfehler gibt, dass die gegebenenfalls noch mal korrigiert werden, weil die sind dann wichtig für die Recherche.
Dagmar Hovestädt: Das heißt aber, wenn ich Ihre Frage, Frau Bergmann, richtig verstehe: Es ist eigentlich tatsächlich egal, wo ein Antrag bearbeitet wird bzw. wo Sie ihn einsehen, weil wir immer die gesamten Dokumente überall an allen Orten konsultieren, um zu sehen, ob für Ihren Antrag irgendwo was vorliegt.
Sabine Schröder: Genau, so ist es. Es gibt aus denen Adressen, wo Ihre Mutti vielleicht gelebt haben könnte oder wo Sie gelebt haben. Wenn es ein Antrag zu sich selbst ist, dann gehen der Antrag oder die Karteirecherchen natürlich an die Außenstellen. Sie gehen nicht immer grundsätzlich an alle zehn, zwölf Außenstellen, die wir haben, sondern wir gucken, wo die Geburtsorte, wo die Wohnorte bis 1990 waren. Das ist immer automatisch.
Silvia Bergmann: Ich war ja gestern in der Ausstellung "Einblick ins Geheime" und hab schon ein bisschen was über die Karteikarten oder das Karteisystem des MfS gelernt, also, dass es sowas wie die F 16, glaube ich, F 22, F 77 gab. Und da ist für mich die Frage: Was passiert dann als Nächstes? Also, wenn mein Antrag erfasst ist - er ist ja jetzt erfasst -, dann geht der in diese verschiedenen Karteikarten-Abteilungen? So nenne ich das jetzt mal laienhaft.
Sabine Schröder: So ist das, ja. Natürlich erst mal in die F 16, das ist bei uns die zentrale Kartei. Das war eben so, dass beim MfS erst mal alles nach Namen gesammelt wurde, sonst hätten sie sich ja später nicht mehr zurechtgefunden. Also, es war auch immer nach Namen geordnet - phonetisch. Das ist ein Vorteil, wenn man zum Beispiel einen schwierigen polnischen oder kubanischen oder asiatischen Namen hat. Das ist schon schwierig. Und die Kollegen kennen sich damit sehr gut aus, die finden in der großen Kartei - wie wir sagen: F 16 - erst mal etwas oder nichts. Und dann haben wir noch die Möglichkeit, dass es dann auch in die dezentralen Karteien geht, das sind die Karteien, die die Hauptabteilungen geführt haben -, ob da vielleicht noch ein Hinweis, eine Karteikarte oder irgendetwas ist.
Dagmar Hovestädt: Dann melde ich mich wieder kurz. Aber es ist ja so, dass wir 45 Millionen Karteikarten haben in über 4.500 Systemen, so ungefähr. Das heißt, die große Kartei ist ja nur eine, es ist aber die größte mit fast sechs Millionen Karteikarten und Namen da drin. Deswegen ist das so eine zentrale Anlaufstelle. Aber natürlich musste auch die Stasi damals Unterlagen finden und hat deswegen diese vielen verschiedenen Systeme gefunden, um für sich dann auch einfach jederzeit Informationen verfügbar zu haben. Und das nutzen wir jetzt quasi als Archiv und nutzen das als Findmittel.
Sabine Schröder: Das sind die Findmittel, die uns den Hinweis geben, dass vielleicht eine Signatur existiert, und dann schaut man noch mal. Wenn da eine aufgetragen ist, dann gibt es die F 22, die Decknamen- oder Vorgangskartei, dann müssen die Kollegen mit der Karteikarte wieder woandershin laufen und die gucken dann nach der Nummer und sagen mir praktisch auf meinem Karteirechercheblatt, was zum Vorgang gehört, den wir dann hier führen zu Ihrem Antrag, ob es da eine Signatur gibt und ob ich die bestellen kann.
Silvia Bergmann: Und wenn Sie die bestellen können, was passiert dann?
Sabine Schröder: Im schönsten Fall wäre es natürlich so: Wir bestellen sie gleich, Sie kommen in vier Wochen und das ist alles erledigt. Leider ist es aber nicht so, weil wir so viele Tausende Anträge haben und nur begrenztes Personal, dass wir da einen Schnitt machen müssen. Und genau an der Stelle entsteht der Schnitt. Sie bekommen dann also die Information, dass Unterlagen da sind oder dass keine Unterlagen da sind. Der Vorgang ist dann damit beendet, wenn keine Unterlagen da sind und wird dann wieder in die Registratur verfügt. Da bleibt er dann hängen, wird wieder z. d. A. gelegt, sozusagen.
Dagmar Hovestädt: Z. d. A. heißt was?
Sabine Schröder: Zu den Akten. Er wird dann halt nicht körperlich vernichtet, er wird dann erst nach zehn Jahren vernichtet. Das ist die Aufbewahrungsdauer, die wir hier haben. Wenn dann weiter nichts war, werden die Vorgänge auch vernichtet.
Dagmar Hovestädt: Also in der Zentralregistratur natürlich. Nicht die Akten, sondern die Behördenvorgänge und der Antrag. Sie haben ja selber so eine Frage gestellt gehabt, weil wir Ihnen dann irgendwann auch dieses Formschreiben übermittelt haben, ne? Da ist ja dieser Satz drin. Den können Sie vielleicht mal kurz vorlesen, Frau Bergmann.
Silvia Bergmann: Ja. Ich habe ein Dreivierteljahr, nachdem ich den Antrag gestellt habe, wieder ein Schreiben bekommen vom BStU. Diesmal war ich nicht ganz so aufgeregt, aber trotzdem hat mich das ja schon emotional wieder angefasst: Was mag da jetzt drinstehen? Es war jetzt nicht die Einladung zu einem Termin, wo ich die Akte einsehen kann, sondern es war der Hinweis, dass die Recherchen, die aufgrund meiner Angaben in allen infrage kommenden Karteien gemacht wurden, ergeben haben, dass wohl das MfS Informationen zu meiner Mutter gesammelt hat.
Dagmar Hovestädt: Das ist der Punkt, den Sie gerade beschrieben haben, ne? Karteirecherche auslösen, dann kriegt man ein Ergebnis der Archivkollegen, die in den Karteien geschaut haben und das heißt jetzt erst mal Schritt 1: Da ist was, die ist verzeichnet in den Karteien. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass es auch Unterlagen zu ihr gibt, ist relativ hoch.
Sabine Schröder: Ja. In der Regel sind diese Unterlagen, die vom MfS archiviert worden sind, natürlich auch noch da. Aber weil Sie fragten nach den infrage kommenden Karteien. Das sind natürlich die Angaben, die Sie gemacht haben, also: Meine Mutter lebte in Leipzig, in Erfurt, in Berlin. Dann würde praktisch hier die Karteirecherche, wovon wir vorhin sprachen, in die Außenstellen Erfurt, Leipzig und Berlin gehen und von da würde ich die Rückläufe bekommen, ob denn da auch noch Findhilfsmittel einen Hinweis haben auf Unterlagen. Wenn Sie die nicht angeben, kann ich dann nicht recherchieren. So ist das. Also, dann habe ich nur die Personengrunddaten und würde nur in der Zentrale recherchieren. Wenn Sie aber sagen, Leipzig oder Erfurt kommen noch infrage - das ist eben abhängig vom Antragsteller, dass er die Angaben macht, wo derjenige gelebt hat -, dann würde man auch da recherchieren. Und dann wartet man, bis die Rückläufe zurück sind, ehe sie dann diesen Zwischenbescheid, wie wir das nennen, bekommen. Also eine Information, dass unter den von Ihnen gemachten Angaben etwas da sein könnte. Wir halten uns da erst mal vage, weil es auch sein kann, dass eine Unterlage eben nicht mehr da ist, weil sie vielleicht aufgegangen ist in einer anderen Akte oder ein späterer Untersuchungsvorgang entstanden ist oder man eine andere Akte aufgelöst hat, weil das eingeflossen ist. Das sieht man dann erst, wenn man die Akte bestellt. Aber mit dem Zwischenbescheid, den Sie jetzt erst mal gekriegt haben, dass Sie noch weiter warten müssen, weil es noch etwas dauert, ist erst mal mindestens sechs Monate Ruhe und dann würde erst wieder neu bestellt werden.
Silvia Bergmann: Und was passiert in der Zwischenzeit? Heißt das, es wird noch mal geschaut, ob es vielleicht Bildmaterial, Audiomaterial, Papier zu meiner Mutter gibt? Also, wird jetzt gerade physisch nach einer Akte gesucht oder was passiert jetzt gerade im Moment?
Sabine Schröder: Wir warten jetzt, dass diese Zwischenzeit--, die wir unseren Antragstellern leider auferlegen müssen, hängt mit dem Personal zusammen und mit der Menge des Materials, das wir hier haben. Wir haben ungefähr 6.000 Anträge hier bei mir in diesem Referat in Berlin und wir haben 20 Mitarbeiter. Und das heißt, man kann nicht jeden Antrag gleich hintereinanderweg bearbeiten. Wir haben da so einen kleinen Stauraum eingeführt und der Stauraum ist unser Zwischenlager. Da hängen erst mal die Vorgänge, bis man dann mit der Nummer wieder dran ist. Dann würden wir ihn bestellen und dann sehen wir auch erst, was kommt. Das kann eine Akte sein, die zehn Bände hat, das kann eine Akte sein, die 80 Bände hat, wo viele Personen drin sind, es sind aber auch Sammelakten, wo Ihre Mutti vielleicht nur vorkommt. Das würde man dann erst sehen.
Silvia Bergmann: Wenn Sie sagen, das würde man dann erst sehen, bedeutet das, da nimmt sich jemand diese Recherchematerialien, die gefunden wurden, vor? Weil es gibt ja dann auch noch entsprechend das Persönlichkeitsrecht, dass eben Daten von den Menschen, die mit meinem Antrag im Grunde nichts zu tun haben, ja dann auch geschwärzt werden, weil man die natürlich schützen möchte.
Sabine Schröder: Genau. Das, was Sie vorhin sagten mit den Fotos, Video, Ton, wird gleich in dem ersten Rechercheschritt schon alles abgeklopft, alles zugeordnet. Wir haben dann praktisch das komplette Rechercheergebnis und dann kommt die Wartezeit. Dann bestellen wir und dann würden wir sehen: Was ist drin, sind vielleicht Hundert Personen in einem Vorgang drin und Ihre Mutti ist nur genannt mit ihren Personengrunddaten. Es gibt so das Prinzip, dass alles, was mit den Personengrunddaten in den Akten vorkommt, auch in einem System erfasst wird, sozusagen. Wir sind ja jetzt auch digital, sodass uns manchmal eine Akte, eine Signatur, ausgeworfen wird, wo Ihre Mutti vielleicht nur mit einem Satz oder mit ihren Personengrunddaten genannt ist, weil sie einen Brief an Frau X oder Y geschickt hat. Und dann guckt man: Ist das überhaupt Ihr Wunsch, dass Sie genau das aufklären wollen, dass Sie das sehen wollen, oder gehört das gar nicht zu Ihrem Wunsch. Da fängt dann bei Verstorbenen die Eingrenzung an. Sofern es sich um Unterlagen oder einen Antrag für sich selbst handelt, würden Sie natürlich auch das alles bekommen, was da drin ist.
Dagmar Hovestädt: Das heißt also, bei Verstorbenen sind wir fast noch ein bisschen strenger, richtig?
Sabine Schröder: Genau. Das hängt mit der Entstehungsgenese des Gesetzes zusammen, dass man erst diskutiert hat: Wollen wir überhaupt Aufarbeitung, wollen wir die Akten öffnen? Es gab ja auch Bestrebungen, die Akten zu schließen, zuzulassen. Man hat sich in einem Prozess dann dazu durchgerungen, die Akten zu öffnen, aber man hat auch gesagt: Nicht wie eine Bibliothek, wir werden den Zugang begrenzen, jeder Einzelne soll das Recht haben zu schauen und seine Unterlagen zu bekommen, die zu ihm angelegt wurden. Bei Verstorbenen ist es dann der Paragraf 15 - das eigene Zugangsrecht der nahen Angehörigen -, aber da tritt der Antragsteller - also Sie - würden nicht an die Stelle Ihrer Mutter treten in Form von "Es gibt alles.", sondern Sie müssen deutlich machen, dass Sie dies und das und jenes aufarbeiten wollen. Und das ist ganz wichtig, das ist nämlich das berechtigte Interesse, dass Sie sich nicht aufgrund von Familienstreitigkeiten oder vermögensrechtlichen Sachen Einsicht in Unterlagen begehren, sondern dass Ihnen Ihre Mutter übermittelt hat: Dieses und jenes ist passiert, ich habe darunter mein ganzes Leben lang gelitten. Sie als Tochter haben auch mitgelitten und möchten jetzt Sicherheit haben, was Ihrer Mutti passiert ist und wie können Sie es einordnen? Das ist das, wo wir sagen, dass es Aufarbeitung ist. Das hat der Gesetzgeber auch ganz klar formuliert: Nur zur Aufarbeitung! Aufarbeitung ist ein schwieriger Prozess und wir haben dazu den schmerzlichen Schatz bei uns. Und so soll es dann auch möglich sein, dass Sie Einsicht oder die Unterlagen bekommen, die Sie da erwarten.
Silvia Bergmann: Das ist ja tatsächlich auch ein sehr individueller Prozess, diese Aufarbeitung. Also, die transgenerationale Weitergabe von Traumata ist ja ein Begriff, über den man immer wieder stolpert. Aber sich zu fragen: Was bedeutet das eigentlich für mich? Und tatsächlich war es für mich so, dass ich im Internet ja diesen Antrag heruntergeladen habe, dann habe ich ihn aufgemacht, hab reingeschaut und hab ihn erst mal wieder für Wochen zugemacht, weil mich das alleine schon emotional sehr angefasst hat und ich mir die Frage gestellt habe: Was ist eigentlich mein berechtigtes Interesse? Wieso möchte ich eigentlich in diesen Antrag schauen, wohl wissend, dass meine Mutter diesen Antrag auf Akteneinsicht nicht gestellt hat? Was hat das mit mir zu tun? Was hat die Vergangenheit meiner Mutter mit mir zu tun, mit meinem Leben jetzt und mit meinem Leben in der Zukunft? Und da war für mich ein ganz wichtiges Schlagwort das Thema Mentale Gesundheit - diese Spirale des Schweigens zu durchbrechen und einfach zu schauen, ob ich zu den Informationen, die ich von meiner Mutter selber noch erhalten habe, Spuren in den Akten finde, und mich im Grunde auf den Weg zu machen, auf den Weg zu begeben, dort hineinzuschauen in die Akte und nicht zu wissen, was mich erwarten wird.
Dagmar Hovestädt: Sie hatten dazu ja auch eine Frage, nämlich: Wenn es dazu kommt, dass wir was gefunden haben, man einen Termin hat und in die Akten reinschaut, können wir das eigentlich mitbetreuen, auch psychisch mitbetreuen? Und wie gehen unsere eigenen Kolleginnen und Kollegen damit um? Man hat ja die Akten vorher gelesen, man weiß, was drinsteht und übergibt sie dann einer Person.
Sabine Schröder: Eine psychologische Schulung gibt es insoweit, wie Sie sich das vielleicht vorstellen würden, nicht. Wir haben hier vor 30 Jahren angefangen und da war eigentlich nur Masse das Thema. Natürlich ist einem der eine oder andere Vorgang noch in Erinnerung geblieben, aber es ist wie bei Ärzten, die den Bauch aufschneiden müssen: Beim zehnten Mal ist es nicht mehr so schlimm. Wir können uns halt nicht mit jedem auseinandersetzen. Sie kriegen das dann einfach zugeschickt - per online oder Papier, wie sie es haben wollen.
Dagmar Hovestädt: In den Gesprächen gibt's schon manchmal eine kleine Vorbereitung oder ein Geleit, in dem Sinne. Aber das wäre vielleicht auch ein bisschen viel verlangt, wenn unsere Kollegen hier garantieren sollen, dass sie wirklich jede Art von psychologischer Betreuung für so einen sehr individuellen Moment mitbringen. Da gibt's tatsächlich Beratungsstellen, wo sich Leute, die zum Beispiel in Stasi-Haft gesessen haben und wirklich lang anhaltende - auch psychologische - Schäden mitbringen, beraten lassen und da sozusagen eine bessere Betreuung in dem Sinne erfahren. Aber die Kollegen hier sind in der Regel auch sehr verständig und sehr ruhig und wissen, dass das für jeden Einzelnen eine anstrengende Situation sein kann, ne?
Sabine Schröder: Ja, das ist so. Das war in den Zeiten, wo wir viel Akteneinsichten durchgeführt haben, auch bestimmender. Da hat man dann schon mal geguckt, was drin ist: Oh, da ist ein Kind gestorben, da ist der Vater ums Leben gekommen. Das kann man nicht jedem Mitarbeiter geben. Da hatte man dann schon so seine Ansprechpartner, die das dann gemacht haben, unter anderem auch, wenn auf der Karteikarte so etwas steht wie: Sie ist die Mörderin ihres Kindes. Da überlegt man erst mal: Jedem kann man das nicht geben. Einer jungen Mutti würde ich das jetzt nicht zur Bearbeitung geben. Aber da haben wir schon Kollegen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie eben auch schwierige Dinge erledigen können. Mitunter kommt ja auch bei einem Antrag oder bei einer Zurverfügungstellung von Unterlagen vielleicht erst raus, warum der Vater eingesperrt wurde. Oder vielleicht liest die Tochter, dass die Mutter aus Eifersucht den Vater irgendwo ans Messer geliefert hat. Das ist dann ein schwieriger Prozess, denjenigen zu begleiten, der weinend vor den Akten sitzt und sagt: Ich muss jetzt mal eine Pause machen, darf ich morgen wiederkommen? Das machen wir dann schon, das ist klar. Aber in der Regel haben wir um uns auch so ein bisschen einen Schutzpanzer gebaut, indem wir die Unterlagen zuschicken. Wir bereiten die hier vor und anonymisieren die hier und sie kriegen sie zugeschickt. Ja, und dann müssen sie sehen, was sie sich selbst daraus lesen.
Silvia Bergmann: Aber tatsächlich ist es ja so, dass ich angekreuzt habe, dass ich die Unterlagen gern hier in Berlin einsehen würde. Das heißt, ich komme dann quasi in so eine Art Lesesaal oder Raum und hab dann physische Unterlagen - ich nehme an, nicht die Originalakte, sondern Kopien - vor mir liegen. Kann ich die Kopien dann mit nach Hause nehmen? Oder wenn ich jetzt zum Beispiel auf den Aktendeckel schaue und sage: Nee, das geht jetzt gerade gar nicht, ich hab da drei Sätze gelesen, mir wird ganz schlecht, mir ist ganz übel, mein Kreislauf sackt weg. Kann ich dann noch mal wiederkommen?
Sabine Schröder: Ja, selbstverständlich können Sie dann noch mal wiederkommen. Aber wie gesagt, wir machen das jetzt in der Regel so, dass wir alles, was unter 100 Seiten ist, schon zuschicken als Papier, dass sie sich dann ihre Tage, ihre Stunden zu Hause einteilen können, wann sie was weiterlesen, wann sie noch mal vorblättern. Wenn man dann hier ist bei der Akteneinsicht, dann liest man und das ist alles klar in dem Moment. Und wenn man zu Hause ist, denkt man: Stand das da auch? Ich müsste eigentlich noch mal weiter davor gucken. Insofern ist es immer ganz gut, sie nehmen die Kopien. Und online müssen sie noch nicht mal was bezahlen. Also, die Online-Zurverfügungstellung ist kostenfrei.
Dagmar Hovestädt: Das ist sozusagen eine Variante, mit der man die Unterlagen dann als digitale Kopie zu Hause auch hat und sich jederzeit damit beschäftigen kann und dann auch wieder in das Thema vertiefend einsteigen kann. Ich glaube, die Akten selber erzählen ja eine Geschichte, aber längst nicht alles. Das braucht enorm viel Kontext über die Zeit. Man kann sich wirklich über längere Zeit damit beschäftigen. Und sie sind eigentlich immer nur ein Puzzlestein. Auch Akten sind nicht [betont: die] Antwort auf alle Fragen. Das ist vielleicht nicht unbedingt so eine kleine Warnung, sondern nur das Wissen darum. Selbst wenn man viele Akten hat, sind immer noch unglaublich viele Fragen nicht einfach und klar zu beantworten, und es bleibt dann ein Prozess, aber man kommt immer ein Stückchen weiter. Das kann man auf jeden Fall sagen.
Silvia Bergmann: Das heißt, es kann passieren, dass ich vielleicht in einem halben Jahr oder Dreivierteljahr einen großen Umschlag bekomme und da sind dann Kopien drin?
Sabine Schröder: Wenn Sie nicht Ihre Onlineadresse hinterlassen haben, dann würden Sie die Kopien bekommen. Also, wie gesagt, unter 100 Seiten sind die kostenfrei und man kann auch ankreuzen, dass man unbedingt Kopien haben möchte. Und wenn es dann vielleicht 300 Kopien sind, dann muss man natürlich die fünf Euro bezahlen für die Herausgabe, aber ich denke mal, da sind wir eine preiswerte Behörde. Da hat es noch nie Probleme gegeben.
Dagmar Hovestädt: Wenn aber jemand unbedingt in den Lesesaal kommen will - das höre ich ein bisschen so bei Frau Bergmann [lacht leicht] -, was machen wir dann?
Sabine Schröder: Also, wenn Sie wirklich in den Lesesaal kommen wollen, dann kriegen Sie einen Termin zugeschickt, müssen in unserer Behörde hier unten den Lesesaal benutzen, kriegen ein Vorgespräch, auf was Sie sich ungefähr einstellen müssen, also: Hier sind die Unterlagen, die Sie vermuten, dass sie das MfS von bis zu Ihrer Mutti gesammelt hat. Und die würden Ihnen dann hingelegt werden. Wenn nichts anonymisiert werden müsste, könnte man auch in die Originalakte gucken. Wenn aber die schutzwürdigen Stellen in den Akten anonymisiert werden müssten, dann ist es immer händelbarer mit Kopien. Und daraus ableitend haben wir nämlich dann gesagt: Wenn wir ja doch nur Kopien hinlegen und derjenige muss kommen und hier lesen - klar, er muss die Zeit aufbringen, kann hier sitzen und kann auch noch mal was fragen -, aber dann kann man es eigentlich auch nach Hause zuschicken. Sie kriegen dann noch eine Erklärungshilfe beigefügt, was sich hinter der Hauptabteilung XY verbirgt oder was diese Begriffsabkürzungen bedeuten, sodass Sie sich dann auch leichter erklären können, was das bedeutet.
Dagmar Hovestädt: Gut. Gibt es noch Fragen, die offen sind, oder etwas, was Sie noch wissen wollten? Oder ist der Prozess für Sie jetzt insgesamt ein bisschen klarer geworden?
Silvia Bergmann: Der ist auf jeden Fall klarer geworden. Vielen Dank! Ich kann mir jetzt vorstellen, was jetzt gerade im Moment passiert.
Dagmar Hovestädt: Jetzt liegt Ihr Antrag sozusagen auf dem Stapel, bis er langsam nach oben wandert und dann dran ist.
Silvia Bergmann: Genau. Und ich kann mich in der Zwischenzeit auch anderen Themen widmen, weil Sie, Frau Hovestädt, haben es eben schon gesagt: Die Akteneinsicht ist nur so ein kleines Puzzleteilchen. Ich habe noch ganz viele andere Puzzleteilchen und -steinchen, die ich umdrehen möchte in meinem Leben. Und vor allem hab ich mir auch ganz fest vorgenommen, mich nicht nur den Verstorbenen zu widmen, sondern die Fragen, die ich meiner Mutter nicht mehr gestellt habe, aber anderen Familienmitgliedern zu stellen. Deshalb weiß ich die Zwischenzeit gut zu nutzen. Dankeschön!
Dagmar Hovestädt: Ich danke auch! Und ich danke auch Sabine Schröder für den Einblick in unseren Arbeitsalltag bei der Abteilung Auskunft.
Sabine Schröder: Gern.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war zuletzt Sabine Schröder, die in der Abteilung Auskunft des Stasi-Unterlagen-Archivs, kurz AU, ein Referat für die persönliche Akteneinsicht leitet, und zwar in Berlin-Mitte. Es gibt eben auch noch andere Orte, wo man Akten einsehen kann. Sie hat der Antragstellerin Silvia Bergmann Fragen über den Rechercheprozess erläutert. Silvia Bergmann stellte im Herbst 2021 einen Antrag zu ihrer verstorbenen Mutter, die als junge Frau in den Westen geflüchtet war und lange Jahre Angst vor der Stasi hatte.
Dagmar Hovestädt: Unser Podcast endet jedes Mal mit einem akustischen Beispiel aus dem riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Die Hauptabteilung XIV mit Dienstsitz in Berlin-Hohenschönhausen war unter anderem für die Sicherung und Durchführung des Untersuchungshaft- und Strafvollzuges im MfS zuständig. Ausgehend von einer behaupteten ständigen Bedrohung waren Schulungen notwendig, die auch mittels Dia-Ton-Vorträgen erfolgten. Zwei Ausschnitte eines Tones zu einem solchen Dia-Ton-Vortrag geben einen einerseits akustischen Eindruck zur allgemeinen Gefahrenlage und andererseits zum Umgang damit. Von den 219 Minuten mit mehreren Fassungen hören wir drei.
[Archivton Beginn]
[Ausschnitt 1]
[Sprecher:] Ausgehend von der gegenwärtigen Klassenkampfsituation und den Tendenzen terroristischer Aktionen in der Welt muss auch in Zukunft mit Versuchen terroristischer Angriffe gegen Personen und Einrichtungen in der DDR gerechnet werden. Eine wesentliche, nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle sind in diesem Zusammenhang vor allem die imperialistischen Geheimdienste und der von ihnen gesteuerte Terrorismus. Im Rahmen seiner gegen die DDR gerichteten feindlichen Konzeptionen sind verstärkt Aktivitäten gegen die staatliche Ordnung und Sicherheit sowie gegen staatliche Einrichtungen und besonders in letzter Zeit gegen die Untersuchungshaft- und Strafvollzugseinrichtungen zu erkennen. In seinem differenzierten Vorgehen gegen die Untersuchungshaftvollzugseinrichtungen, so auch gegen die des MfS, geht der Feind davon aus, [verzerrte Stimme aufgrund technischer Störung: dass sich in diesen Vollzugseinrichtungen] Personen konzentrieren, die ihren feindliche beziehungsweise negative Grundeinstellung zur sozialistischen Gesellschaft bereits offenbart haben, und er hofft, mit diesen Kräften in der von ihm angestrebten Richtung wirksam zu werden.
[Ausschnitt 2]
[Sprecher:] Angriff und Abwehr erfolgt mit MPi. Angriff mit der eigenen Waffe blockieren und die Waffe des Gegners aus der Angriffsrichtung schieben. Kolbenschlag zum Kopf.Achtens: Demonstrationen. Fesselung der Hände und Füße unter Zuhilfenahme einer MPi. Abtransport des Gefesselten. Fesselung der Hände und Füße mit Sicherungsschlinge am Hals. Fesselung der Hände mit Sicherungsschlinge am Hals. Fixierung und Halten eines Gegners durch zwei Personen. Fixierung und Halten eines Gegners in der Rückenlage. Anlegen einer Schließfessel. Die angelegte Schließfessel. Die angelegte Schließfessel auf dem Rücken. Das Führen einer Person mit angelegter Schließfessel. Das Führen einer Person mit angelegter Schließfessel bei Widerstandsleistung. Das Führen einer Person mit angelegter Schließfessel bei Widerstandsleistung unter Zuhilfenahme der Führungskette.
[Archivton Ende]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten –
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."