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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Willkommen zu einer neuen Folge. Ich bin Dagmar Hovestädt und leite die Abteilung Vermittlung und Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv. Mein Co-Host für diesen Podcast ist der Rundfunkjournalist Maximilian Schönherr.
Maximilian Schönherr: Heute spreche ich mit zwei deiner Kollegen im Stasi-Unterlagen-Archiv. Der eine, Arno Polzin, ist Ingenieur, der andere, Ralf Blum, Archivar.
Dagmar Hovestädt: Arno Polzin ist schon ziemlich lange bei uns beschäftigt. Er ist 1962 in Ostberlin, also in der DDR geboren, studierte dort Maschinenbau und gehörte zum Berliner Bürgerkomitee zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit. Er war dann auch bei der zweiten Besetzung des Archivs im September 1990 dabei. Dazu hatten wir auch schon mal eine Folge hier im Podcast. Ende 1990 begann er noch beim Sonderbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes zu arbeiten und ist bis heute hier beschäftigt.
Maximilian Schönherr: Zusammen mit dem Archivar Ralf Blum arbeitete Arno Polzin an einer Übersicht, mit der man Fundstellen über Kulturgüter der DDR im Stasi-Unterlagen-Archiv finden kann. Kulturgüter, das geht vom Meissener Porzellan über Münzsammlungen bis zu berühmten Gemälden.
Dagmar Hovestädt: Es gibt einen vielleicht nicht jedem geläufigen Begriff, den wir kurz erläutern sollten: Arno Polzin[^1] erwähnt das Bernsteinzimmer. Das war ein mit Bernstein ausgestatteter Prachtraum des preußischen Königs Friedrich I. Weil der wenig dafür übrig hatte, der russische Zar Peter I. aber sehr viel, wanderte das Zimmer 1:1 nach Russland. Im Gegenzug bekam Preußen dafür Nachschub für sein Militär: jede Menge russischer Soldaten. 200 Jahre später, bei ihrem Feldzug gen Osten, erbeuteten die Nazis im Zweiten Weltkrieg das Bernsteinzimmer, das sich zu dem Zeitpunkt im Königsberger Schloss befand. 1944 geriet das Zimmer in die Hände der Roten Armee – und gilt seitdem als verschollen[^2].
[^1: Der Kommentar stammt von Ralf Blum.]
[^2: Die Nazis erbeuteten das Bernsteinzimmer und verbrachten es von einem Schloss in St. Petersburg zum Königsberger Schloss. Der Verbleib nach Kriegsende ist unklar.]
Maximilian Schönherr: Das ist eine spannende Geschichte für sich, ebenso wie die Aktion "Licht", über die wir gleich einiges mehr erfahren werden.
Dagmar Hovestädt: Hören wir nun ein Gespräch, in dem es um Provenienzforschung zur DDR geht, also um ganz klassische Dinge der Herkunft, für die Archive notwendig sind.
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Maximilian Schönherr: Wir sprechen heute über Provenienzforschung. Das verbinden manche mit Raubkunst. Das ist völlig falsch. Provenienz bedeutet ja eigentlich, wohin die Kunstgüter gehören. Kann man das so sagen, Herr Polzin?
Arno Polzin: Das kann man so sagen. Es geht praktisch um die Zuordnung von Dingen und ihrer Herkunftsgeschichte.
Maximilian Schönherr: Ja. Also Ihr Buch heißt "Auf der Suche nach Kulturgutverlusten - Ein Spezialinventar zu den Stasi-Unterlagen". Ich finde es ein ganz interessantes Buch. Man muss dazu gleich wissen: Es ist kein Reader mit lauter schönen Anekdoten, also wo das MfS irgendwo reingefasst hat und sich die Finger verbrannt hat, sondern es ist einfach ein, man nennt es, Findbuch.
Arno Polzin: Ja, wir sind ja in dem Falle Kooperationspartner vom Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste in Magdeburg und die haben mit ihrer ganz eigenen Aufgabenstellung bei uns angefragt, ob wir ein Kooperationsprojekt mittragen würden, indem wir die Stasi-Unterlagen daraufhin prüfen, ob es Spuren gibt zu Enteignungen, Beschlagnahmungen, Verkäufen und dergleichen. Und das Ergebnis ist dann eher eine Art Findbuch als eine Anekdoten-Geschichte.
Maximilian Schönherr: Also zum Beispiel: Ich gehe in ein Archiv, das geht beim Stasi-Unterlagen-Archiv nicht ganz so einfach wie in einer öffentlichen Bibliothek. Es wird oft verwechselt auch. Ein Archiv und eine Bibliothek ist was anderes. Aber ich gehe da hin und ich suche jetzt zum Beispiel nach, sagen wir mal, Lattenrost. Dann müsste ich ein Findbuch oder Schlagworte benutzen. Was ist der Unterschied zwischen Schlagworten und Findbüchern? Ich will das nur mal im Vorfeld klären, damit auch Ihr Buch klarer wird.
Ralf Blum: Na ja, ist vollkommen berechtigt. Ich würde aber vorausschicken, dass wir heute gar nicht mehr so viel in Büchern - Findbücher ist der klassische Begriff - recherchieren, sondern wir recherchieren ja heute in digitalen Findmitteln, das heißt, wir geben Schlagworte in eine Datenbank ein und kommen dann so zu Ergebnissen. Aber Findbuch ist tatsächlich der klassische Begriff. Vorangestellt ist eine Klassifikation, das ist mein erster Orientierungspunkt, und im Anhang zu einem Findbuch finden wir dann auch noch gewisse Register. An denen können wir uns auch orientieren. Aber es hilft nichts, man muss in den Mittelteil einsteigen und sich die einzelnen Aktentitel, die da aufgeführt sind, sowohl über Akten als auch womöglich über andere Medien genau durchlesen und entsprechende Unterlagen bestellen. Das ist ein ganz klassisches Vorgehen im Archiv.
Maximilian Schönherr: Also, wir haben hier 600 Seiten vor uns und davon sind quasi 100 Seiten, also ein Sechstel ungefähr, Text zum Lesen. Der Rest ist Liste. Und das finde ich spannend. Man sollte nur gleich wissen, wenn man dieses Buch herunterlädt, zum Beispiel als PDF - ist kostenlos -, oder sich das bestellt für 2 Euro beim Stasi-Unterlagen-Archiv, worauf man sich einlässt. Also, es steht zum Beispiel an einer Stelle etwas von einem Aquarell von Hitler - "Hofbräuhaus". Das wird eben nicht anekdotisch weitergeführt, sondern es ist einfach Teil der Liste und wird kurz in diesem Vortext erwähnt. Sind Sie da tiefer eingestiegen, jetzt zum Beispiel zu diesem Aquarell? Wissen Sie da irgendwas mehr? Oder bleibt es dabei, dass es eben eine Liste für zukünftige Forschungen ist, wo dann Forscherinnen oder Forscher, die sich damit beschäftigen, dann mit diesem Fundstück tiefer einsteigen?
Arno Polzin: Es bleibt erst mal bei dem kurzen Hinweis. Dazu ist vielleicht zum Verständnis ein bisschen weiter auszuholen. Die lange Liste, die vor allem im Internet nur zu finden ist, besteht aus Signaturen zu sogenannten dezentralem Material. Das ist also eher das Material, das damals bei der Staatssicherheit noch aktiv in den Büros gefunden wurde und erst durch unsere KollegInnen im Archiv peu à peu archivisch erschlossen wurde. Und das ist das, was der Kollege Blum vorhin andeutete, wo eine Schlagwortverzeichnung möglich war. Und in dem konkreten Fall mit dem Hitler-Aquarell erinnere ich mich jetzt nur, dass es eine Signatur war aus der Hauptabteilung XVIII. Das war die, die für die Wirtschaft im Allgemeinen zuständig war, auch mit ihrer Abteilung 7, aber speziell auch für Sachen mit Kulturgut[^3]. Und dort ist durch die erschließenden KollegInnen damals festgehalten worden, dass in dieser einen Signatur ein IM-Bericht enthalten ist, wo der IM darüber berichtet, dass irgendwo im westlichen Ausland - ich weiß nicht mehr genau, ob in der Bundesrepublik oder in Österreich - ein Aquarell zum Verkauf angeboten worden ist, das angeblich auf Hitler zurückgehen soll und den Titel "Hofbräuhaus" oder so ähnlich trägt. Das Material selbst, also den Bericht - den IM-Bericht - selbst habe ich nicht gelesen. Ich bin also wirklich nur zurückgeführt auf diese zentrale Signatur. Es ist natürlich ein interessantes Schlagwort und deswegen haben wir es auch in die Liste mit aufgenommen. Wer da mehr wissen will, muss dann tatsächlich sich diese Signatur bestellen und prüfen, ob da mehr zu finden ist. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es eben wirklich bei diesem einen IM-Bericht bleibt und wir aus diesem Material erst mal nicht erkennen können, ob oder welche Schlüsse die Staatssicherheit damals gezogen hat.
[^3: Gemeint ist die Abteilung 13 der Hauptabteilung VII, die u.a. für die Kulturgutfragen zuständig war.]
Maximilian Schönherr: Herr Blum, Sie haben mit dieser Recherche für dieses Buch angefangen. Sie können ja nicht in das Archiv gehen und - digital oder nicht digital - nach "Raubkunst" oder "Kulturgut" suchen. Also, das können Sie schon, aber Sie werden wenig finden. Sie müssen da kreativer werden. Können Sie diesen Prozess mal beschreiben?
Ralf Blum: Wir haben eine Datenbank, in der schon deutlich über 90 Prozent unserer Unterlagen, unsere überlieferten Sachakten, erschlossen sind. Und in diese muss man mit bestimmten Schlagworten Begriffe eingeben, die zum Thema passen. In dem Fall würde ich mal anfangen mit "Kunst und Kultur". Dann muss man zusätzlich die Aktivitäten, die uns interessieren, in dem Fall ist es "Raub", "Diebstahl", "Verlust" und "Entzug", eingeben und dann natürlich die Gegenstände, die uns interessieren, die typischerweise als Antiquitäten, als Handelsware auftauchen. Und das sind dann in erster Linie Ölgemälde, Porträts, Medaillen und Münzen. Das können sehr, sehr vielfältige Gegenstände sein, das reicht am Ende bis zu Spielzeug und Puppen. Alles das, was irgendwann mal als Sammelgut von Wert sein könnte. Und Blickpunkt war natürlich immer die Entwicklung in der Bundesrepublik, die Entwicklung in Westeuropa. Wie entwickeln sich die Märkte? Was könnte Geld und Devisen bringen? Das wurde beobachtet und darauf liefen letztlich die Handelsaktivitäten hinaus. Und das waren natürlich die Sachen, die wir dann mit verschiedenen Ansätzen in der Datenbank gesucht haben. So kamen wir zu unseren Treffern. Am Ende waren es über 2.000 Treffer, die wir in der erwähnten Liste zusammengefasst haben.
Maximilian Schönherr: Also "Briefmarkensammlung" haben Sie auch gesucht - das Schlagwort "Briefmarken"?
Ralf Blum: Das ist eines der Stichwörter, also "Medaillen", "Münzen", "Briefmarken". Da ist vielerlei denkbar.
Maximilian Schönherr: Herr Polzin, spielt die Aktion "Licht" eine ausschlaggebende Rolle für diese ganze Forschung, für diese Entwicklung auch? Es war ja 1961/62. Also, 1961 hat Mielke sich das ausgedacht - oder jedenfalls veröffentlicht in seinem engsten Raum - und im Januar 1962 fand dann diese irrsinnige Aktion statt. Könnte man das als Urerlebnis/Uraktion definieren oder haben Sie noch ältere Sachen gefunden?
Arno Polzin: Die Aktion "Licht" war oder ist natürlich in dem Gesamtkontext sehr hoch einzubinden, war aber jetzt für unser Projekt in dem Sinne nicht so relevant, weil da der Auftraggeber, das Magdeburger Zentrum für Kulturgutverluste, ein separates Projekt dazu in Auftrag gegeben hat. Und da ist ein Kollege mit einer eigenen Untersuchung betraut worden, auf deren Ergebnis wir selber jetzt gespannt sind. Aber das war für uns eben auch die Entlastung, dass wir uns um diese Sachen nicht zu kümmern brauchen. Nichtsdestotrotz sollte in unseren Recherchen dieser Deckname Aktion "Licht" mit aufgetaucht sein, er ist mit aufgenommen worden, aber wir haben dort nicht vertiefend geforscht.
Maximilian Schönherr: Können wir mal die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit und dem Kulturgut etwas näher beschreiben? Also, was hat eigentlich eine Inlandspolizei/ein Geheimdienst mit Kultur zu tun?
Ralf Blum: Also, die Aufgabe des MfS in dem Zusammenhang muss man als sehr vielschichtig und ambivalent bezeichnen. Zunächst einmal gab es die wichtige Aufgabe, Schmuggel, generell von Wertsachen, in den Westen zu verhindern. Und darunter konnte oder darunter [betont: musste] man auch Kunst- und Kulturgut fassen. Das ist, würde ich sagen, die Hauptaufgabe einer Struktur gewesen, die bis Ende der 70er-Jahre bestand. Das war die Arbeitsgruppe beim Minister, die Arbeitsgruppe Beater, das war der 1. Stellvertreter des Ministers, also ein Vertrauensmann von Minister Mielke, der mit der Bekämpfung von Schiebereien und Schmuggel beauftragt war. Aus dieser ist zu Beginn der 80er-Jahre eine, sagen wir mal, professionelle Struktur hervorgegangen, die bei der Hauptabteilung VII angebunden war. Das war die VII/13, ausgestattet mit, ich denke, einigen Dutzend Mitarbeitern, die speziell auch den Bereich Kulturgut im Blick hatten und deren Aufgabe es auch war, Kulturgut zu erfassen, zu sichern und zu verhindern, dass solche Sachen in den Westen gelangt sind. Auf der anderen Seite haben Sie schon die Aktion "Licht" angesprochen, wo es tatsächlich Aufgabe der Stasi war, Wertsachen - in erster Linie Kulturgut - zu finden und dann doch auf grobe Weise in Gebäude einzudringen, solche Wertsachen zu beschlagnahmen, zu erfassen und dann über das Ministerium der Finanzen versilbern zu lassen. Also, diese Strecke begann Anfang der 60er-Jahre und zog sich auch bis zum Ende der DDR hin. Diese beiden Stränge muss man im Grunde genommen sehen: Also, auf der einen Seite hatte man sich im MfS auch Kulturgutschutz vorgenommen und auf der anderen Seite trug man dazu bei, Kulturgut zu veräußern. Als einer der Beteiligten an diesen Veräußerungen waren immer auch andere Häuser, immer auch andere Organe beteiligt. Da war das MfS nur Mittäter.
Maximilian Schönherr: Aber woher hat das MfS überhaupt den Auftrag bekommen? Also, hat Ulbricht gesagt: "Wir müssen uns jetzt darum kümmern."? Oder war das Mielke in Eigeninitiative, weil er - 1962 zum Beispiel und später - dachte: "Wir können das monetarisieren, indem wir die Sachen aus den Tresoren holen."?
Ralf Blum: Man muss schon davon ausgehen, dass diese Weichenstellungen von ganz oben kamen. Es gibt beispielsweise nach der Aktion "Licht" in den 70er-Jahren eine Ministerratsentscheidung, eine Ministerratsauflage, in der im Wesentlichen Gemälde und auch sonstige Objekte in Museen zu erfassen waren. Insgesamt wollte man auf den Wert von 60 Millionen DDR-Mark kommen, die dann auch im Westen gewinnbringend zu veräußern waren. So etwas ist nur vorstellbar durch Entscheidungen von obersten Stellen. Innerhalb des MfS müssen wir dann aber auch wieder feststellen, dass es Einzelinteressen gab, sein eigenes Spiel zu spielen und auch Sachen abzuzweigen. Das geht dann schon in den Bereich der internen Korruption. Auch solche Vorgänge sind bekannt.
Maximilian Schönherr: Beispiel?
Ralf Blum: Es gilt als der größte Korruptionsfall in der Geschichte der DDR: Das ist der Fall eines Offiziers [Günter] Wurm. Bei ihm wurden Wertsachen entdeckt, in erster Linie Goldbarren im Millionenwert. Lange wurde seine Sammlung toleriert und dann wurde ihm doch der Prozess gemacht. Das war etwa um 1980. Dann kam er ins Gefängnis und da ist er auch gestorben. Bei ihm wurden viele, viele Wertsachen, in erster Linie Gold, gefunden.
Maximilian Schönherr: Die er woher hatte?
Ralf Blum: Es begann im Grunde genommen mit der Aktion "Licht". Er war einer der höchsten Beteiligten in der Aktion "Licht" und galt als Vertrauensmann und war zuständig dafür, diese Wertsachen in den Westen zu bringen. Und da - wahrscheinlich - hat er schon gemerkt: Die Kontrolle innerhalb des MfS ist nachlässig. Und da hat sein Tun wahrscheinlich begonnen und in der Zeit hat er Schmuck und andere Wertsachen beiseitegeschafft. Das wurde lange Zeit beobachtet und irgendwann wurde ihm eine rote Linie gezeigt, die er dann doch überschritten hat, und in der Folge wurde er abgeurteilt. Der Fall wurde allerdings auch innerhalb des MfS nicht breitgetreten. Dieses Verfahren war ja nun kein Aushängeschild. Aber so kann man sich auch auf die Suche nach Korruption innerhalb des Apparates machen. Das ist insofern ein interessantes Nebenprodukt unserer Arbeit.
Maximilian Schönherr: Da ist Ihre Arbeit ein guter Einstiegspunkt, um eben solche Dinge dann auch zu erforschen.
Ralf Blum: Für vielfältige Fragestellungen, das kann man durchaus sagen, wie so ein Apparat funktioniert.
Maximilian Schönherr: Herr Polzin, welche Rolle spielen - jetzt geldmäßig, für den Export in den Westen und auch intern für die DDR - die Briefmarkensammlungen, die Münzsammlungen, die Porzellanteller aus Meißen und die großen Gemälde in den Galerien oder versteckt in irgendwelchen Privathäusern? Haben Sie da irgendwie ein Verhältnis rausgefunden, was besonders wichtig war? Also, in den 1960er-Jahren waren Briefmarkensammlungen und Münzsammlungen sehr wichtig. Die spielten dann später wahrscheinlich viel weniger eine Rolle.
Arno Polzin: Ja, das ist quantitativ schwer zu bemessen, zumal es ja nicht Aufgabe für uns war, jetzt da die Summen zu bilden. Wenn einzelne Verfahren nachvollziehbar waren, haben wir natürlich die Schadenssumme dort miterwähnt. Die ging oft in die sechsstelligen Bereiche, in Einzelfällen sogar bis in den unteren Millionenbereich - bei den Beschlagnahmungen. Aber jetzt ein Verhältnis zwischen Münzen, Briefmarken, Goldbarren oder Gemälden und anderen daraus abzuleiten, das dann auch noch repräsentativ ist auf Basis dessen, was wir da gesehen haben, ist nicht möglich. Dazu kommt, dass ja der Ansatz des Staates DDR ist, aus möglichst vielen Dingen Valutaeinnahmen zu erzielen, sich auf entsprechend viele Gegenstände oder Gruppen von Gegenständen bezog, die aber nicht immer mit dem Begriff des Kulturguts in Zusammenhang stehen. Insofern ist das also auch ein Nebenergebnis unseres Projekts gewesen, dass wir auf der Suche nach dem Umgang der DDR mit Kulturgut einen ganz großen Bereich gefunden haben, wo Werte verscherbelt worden sind, die aber den Begriff des Kulturguts gar nicht erfüllen. Und insofern ist auch Ihre Frage nach den Summen von solchen Beschlagnahmungen oder so erstens jetzt nicht auf die Schnelle aus unserem Material abzuleiten und zum anderen eigentlich auch abseits dessen, was die Frage des Umgangs mit Kulturgut betrifft.
Maximilian Schönherr: Durfte denn der oder die DDR-Bürger/-in eine Briefmarkensammlung haben, eine Münzsammlung haben? Durften die Meißner Porzellan sammeln? Das war doch erlaubt, oder?
Arno Polzin: Ja, klar, das bloße Sammeln war also eigentlich nicht das Problem. Die Probleme fingen an, wenn die Sammlungen umfangreicher wurden, wenn sie vererbt worden sind, wenn sie verschenkt worden sind oder wenn sie Einzelteile oder mehrere Gegenstände beinhalteten, die dann doch in den Bereich des Kulturguts fielen. Und da gab es eine Regelung: Erstens gab es das Instrument der Vermögenssteuer ab einer bestimmten Summe, zum anderen gab es eine Anzeigepflicht von Sammlern, wenn sie Dinge besaßen, die den Begriff des Kulturguts erfüllten. Das hatte zwei unterschiedlich zu gewichtende Aspekte dann zur Folge. Zum einen wusste der Staat, wo in welchen Privathaushalten welche Dinge zu finden sind. Und angeblich war damit verbunden das Interesse des Staates, die Dinge mit zu schützen. Und zum anderen war das gleich eine Ausgangsinformation: Aha, hier ist einer, der sammelt privat und könnte unter Umständen noch mehr haben als das, was dort bisher zur Anzeige gebracht worden ist. Es gab in diesem Zusammenhang auch eine Sonderregelung für die Besitzer von höherwertigen Sammlungen, indem die Anzeige solcher Sammlungen und die Bereitschaft, diese gelegentlich der Öffentlichkeit zu zeigen, auch zu einer Steuerbefreiung oder Steuerentlastung führte. Was wiederum den Effekt hatte, dass die Räte der Kreise oder die anderen staatlichen Institutionen - die Finanzorgane - dann die Möglichkeit hatten, darüber Listen zu führen: Wer ist denn überhaupt im Besitz von solchen wertvollen Sammlungen? Und darüber kamen dann also auch die jeweiligen Interessenlagen des Staates einerseits oder des Ministeriums für Staatssicherheit insbesondere zum Tragen.
Maximilian Schönherr: Aber die DDR-Bürgerin, die eine Briefmarkensammlung hat, durfte sie nicht in den Westen verkaufen?
Arno Polzin: Das kann ich Ihnen jetzt gar nicht so sagen. Da wird es Regelungen gegeben haben. Es gab offizielle Tauschringe, Tauschpartner, die waren dann aber auch gut organisiert. Über den Kulturbund, glaube ich, war das geregelt. Und da gab es auch erlaubte Tauschstrecken in Richtung Westdeutschland oder nichtsozialistisches Ausland. Wie immer ist dann das Problem im Einzelfall oder in der Menge zu suchen. Die Szene wurde arg beobachtet, einerseits vom Kulturbund selber und dann noch inoffiziell von der Staatssicherheit, und Auffälligkeiten sind dann entsprechend schnell registriert worden und bei - in Anführungszeichen - Bedarf dann auch verfolgt worden. Aber vielleicht kann man in dem Zusammenhang mal kurz das Szenario noch aufblättern, was den Repressionskatalog betraf. Wenn der Staat Interesse hatte, eine höherwertige Sammlung in seinen Besitz zu bringen, dann sind in der Regel Steuervorwürfe in den Raum gestellt worden. Also, der Umfang der Sammlung konnte mit Vermögenssteuer geahndet werden. Wenn es eine seit Jahrzehnten in Familienbesitz gewesene Sammlung betraf, kamen die Erbschaftssteuer und die Schenkungssteuer noch dazu. Und sollte der Sammler mal gelegentlich Einzelteile der Sammlung per Verkauf und Ankauf ausgetauscht haben, kam dann noch eine Gewerbesteuer hinzu. Insofern war allein über diese steuerrechtlichen Möglichkeiten der Zugriff des Staates auf die Sammlungen konstruiert worden. Und das ist auch eine der Ursachen, warum die Staatssicherheit dann gar nicht federführend in diesen Prozessen oder Verfahren tätig wurde und wir deswegen auch nur ein Materiallager haben, die nur einen Teil dieser Geschichte widerspiegelt, und wir alle Anfragenden darauf verweisen müssen: Bitte guckt in den Vor-Ort-Archiven, ob es auch Unterlagen aus den damaligen Zollbehörden und den Finanzbehörden gibt, dass da dann ergänzend geprüft werden kann, was in dem Einzelfall so stattgefunden hat.
Maximilian Schönherr: Die könnte es geben. Die Archive sind nur nicht so groß, denke ich mal, oder?
Arno Polzin: Ich kann es nicht einschätzen, weil wir sind jetzt wirklich nur mit dem Blick auf die Stasi-Unterlagen unterwegs gewesen und mussten uns da schon auf die Finger klopfen, das nicht ausufern zu lassen. Ich kann jetzt zu den Überlieferungslagen von den örtlichen Verhältnissen wenig sagen. Da sind neue Recherchen erforderlich.
Maximilian Schönherr: Können wir über Nationalsozialismus sprechen, also Kunst - in Anführungszeichen -, die aus der Zeit kommt? Die DDR ging ja mit der NS-Zeit ganz anders um, sage ich mal neutral, als der Westen. Die DDR unterstellt dem Westen ja immer, dass alle Nazis da untergebracht werden. Wenn man jetzt bei der Aktion "Licht" oder später durch einen IM, der in einen Privathaushalt reinging, und der entdeckte jetzt plötzlich ein NS-lastiges Foto oder ein Bild oder eine Devotionalie. Wie ging man damit um? Schnell in den Westen oder verstecken, kaputt machen? Was haben Sie dazu rausgefunden?
Ralf Blum: Mir ist aufgefallen, dass eigentlich relativ wenig NS-Bezüge da waren. Ich hätte auf viel mehr getippt. Wir müssen aber davon ausgehen, dass in der Aktion "Licht" viele Güter beschlagnahmt worden sind, die NS-Opfern gehörten, dass, als die Tresore und sonstige verschlossene Räume da geöffnet wurden bei Banken und Versicherungen, darunter viel jüdischer Besitz war von Leuten, die sich nicht mehr melden konnten, die verstorben waren. Und sowas hat dann der Staat letztlich an sich genommen. Ansonsten kann ich nicht bestätigen, dass viele Devotionalien oder Partei-Relikte, Waffen, Uniformen und so, was man jetzt typischerweise auf dem Markt erwarten würde, gefunden worden wären. Da waren die Spuren eher gering. Das hat mich gewundert. Vielleicht noch mal zurück zu dem Stichwort "jüdisches Eigentum": Auch zu Judaica, also was aus jüdischen Gemeinden ursprünglich stammte und dann in der NS-Zeit oder in Folge von Kriegszeit im Grunde genommen teilweise vagabundiert - herrenlos sozusagen - auf dem Markt war, fanden sich erstaunlich wenig Spuren. Möglicherweise sind diese Sachen auch gar nicht notiert worden, gar nicht erst vermerkt oder fixiert worden, sondern das wurde mündlich verhandelt, wie damit zu verfahren war. Auch davon müssen wir ausgehen, dass nicht alles Spuren in den Akten hinterlassen hat.
Maximilian Schönherr: Spielte bei den Kulturgütern der sogenannte Ostblock eine Rolle? Das heißt, wanderten manche Dinge in die Sowjetunion oder nach Tschechien, weil sie dort hingehörten oder weil das MfS sagte:"Wir haben was gefunden, das ordnen wir jetzt einem speziellen Partnerland zu."? Oder haben Sie sowas gar nicht gefunden?
Ralf Blum: Es gab einen wichtigen Berührungspunkt mit der Sowjetunion, das war das Bernsteinzimmer, dass man natürlich im MfS als ganz wichtige Aufgabe sah, das Bernsteinzimmer zu suchen und zu finden und das dann letztlich dem großen Bruder präsentieren zu können als Fund, als Trophäe im Grunde genommen, dass man hier [betont: das] Kulturgut, das verlorene Kulturgut schlechthin, hätte vorzeigen können. So weit kam es dann doch nicht. Aber diese Suche füllt viele Bände. Die Idee ist immer da und das ist im Grunde genommen, denke ich, auch so ein Kernpunkt der Schatzsuche, also das Highlight der Schatzsuche, dass man dieses Kunststück, was schon lange in der deutsch-russischen Geschichte eine Rolle spielte, finden wollte.
Maximilian Schönherr: Es kommt an einer Stelle in Ihrem Buch vor: "Von den überlieferten Unterlagen im Umfang von zirka 51 Kilometern sind knapp 3 Kilometer archivisch erschlossen." Welcher Bereich ist das?
Ralf Blum: Das sind die archivierten, registrierten Unterlagen, die noch nicht durch die Archivare erschlossen worden sind, die aber trotzdem zugänglich sind über unsere Karteien, die wir ja nahezu vollständig von der Stasi übernommen haben. Diese Unterlagen waren von Anfang an ja zugriffsfähig. Wir können nur einsteigen über Namen. Wenn wir also Namen der Beteiligten haben, sowohl von den Tätern als auch von den Opfern als auch von dritten Beteiligten, dann konnten wir in diesen Bestand gut einsteigen. Aber der ist halt archivisch noch nicht erschlossen. Mit "archivisch" meinen wir in dem Zusammenhang: nach Sachgesichtspunkten. Namen der Beteiligten haben wir uns teilweise selber zusammengesucht, im Wesentlichen bekamen wir aber diese Namenslisten vom Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste bereitgestellt - Namen der damaligen Funktionsträger in Museen, beteiligte Gutachter, alle Leute, die damals im weitesten Sinne Einfluss auf den Kunst- und Kulturmarkt hatten. Es war mehr als Schneisenschlagen, sondern wir sind dann systematisch mit den wichtigsten Namen eingestiegen und haben uns die Unterlagen, die bei der Stasi zu diesen Personen vorhanden waren, systematisch vorgenommen und durchgesehen.
Maximilian Schönherr: Ja. Herr Polzin, das ist ja typische Archivarbeit. Man steigt über irgendwas ein, in dem Fall über einen Namen von einem prominenten Kunsthost oder was auch immer, man stößt dann auf Unterlagen in dem Archiv und über die Unterlagen kommt man auf weitere Namen, dann geht man wieder zurück in die Registratur und sucht nach diesen Namen und dann kommt man immer weiter. Das ist der Kern Ihrer Forschung gewesen, richtig?
Arno Polzin: In einem klassischen Forschungsprojekt wäre das der Ansatz, den man verfolgt. Man hat eine Ausgangsthese, man hat erste Begriffe oder Namen von involvierten Personen, nach denen man sucht, und würde über die Aktenrecherche zu weiteren Fäden kommen, an denen man ziehen kann. Im Rahmen [betont: dieses] Projekts mussten wir uns da arg kurzfassen. Wir hatten nicht die Zeit und die Gelegenheit, jeder neuen Spur zu folgen. Insofern ist vieles von dem, was wir gefunden haben, dann auch nur so fragmentarisch angerissen und dient nach uns Forschenden dann als Einstieg in eine ausführlichere Recherche. Kollege Blum hatte die dezentralen Signaturen eher über Schlagworte durchforstet und ich hab mir die Liste der von Magdeburg zur Verfügung gestellten Namen vorgenommen und habe recherchiert, ob dort Unterlagen damit verbunden sind, und hab diese Unterlagen dann gefiltert, ob sie einen Projektbezug haben oder nicht. Und bei denen, die einen Projektbezug hatten, haben wir dann ein bisschen tiefer reingeschaut und die Liste erstellt.
Maximilian Schönherr: Ich habe jetzt ohne einen Hintergedanken mal nach irgendeinem Wort gesucht in Ihrem 600-Seiten-Dokument. Also, online ist es 600 Seiten lang. Und weil mir nichts Besseres einfiel, hab ich "Köln", wo ich wohne, gesucht. "Köln" finde ich in Ihrem Buch 21 Mal. Fand ich interessant, weil Köln ist sehr weit weg von der DDR. Aber Köln ist natürlich so eine Kunstsammler-Stadt gewesen, deswegen dachte ich mir, das könnte schon passen. Ich zitiere mal eins dieser Fundstücke, vielleicht fällt Ihnen dazu etwas ein: "Geplante Lieferung eines Embargo-Gerätes an die DDR mithilfe eines Mitarbeiters der Firma Tektronix GmbH, Köln." Das haben Sie gefunden. Also, da könnte ich jetzt natürlich weiter recherchieren, aber was könnte das für ein Embargo-Gerät gewesen sein?
Ralf Blum: Das ist eher ein Zufallstreffer. Ich würde das nicht unter unserer eigentlichen Aufgabenstellung sehen. Es hängt aber letztlich mit dem KoKo-Bereich zusammen. Wir müssen hier jetzt noch ein paar Namen erwähnen, die bis jetzt noch keine Rolle gespielt haben. Das ist der Bereich des Devisenhändlers Schalck-Golodkowski, der speziell darauf ausgerichtet war, Westhandel zu betreiben und Devisen für die DDR zu erwirtschaften. Dafür hatte er ein großes Kontaktnetz, auch im Westen, und man muss sich vor Augen halten, dass es scharfe Handelsbestimmungen gab, die den Handel mit bestimmten technischen Gütern auch verboten haben. Dafür brauchte Schalck spezielle Kontaktleute und spezielle Firmen. Ich glaube, Sie haben hier eine von diesen Firmen erwähnt. Das war ein großes Firmengeflecht, in dem der Bereich Kunst und Antiquitäten einen kleinen Teil ausmachte. Es gab größere und bedeutendere Bereiche innerhalb dieses Geflechts der Kommerziellen Koordinierung, die unter anderem mit Waffen, mit Rohstoffen und mit Hochtechnologie-Gütern zu tun hatten, die in dem Fall von West nach Ost geschafft wurden. Und offenbar war das hier so eine Beschaffungsaktion - nicht ganz im legalen Bereich -, die hier in Köln ihren Anfang nahm und eingefädelt wurde.
Maximilian Schönherr: Noch mal Köln - andere Fundstelle: "Information der Hauptabteilung III über Aktivitäten und Kontakte eines Kölner Kunsthändlers", "Sachstandsbericht und Beobachtungsbericht der HA VIII über einen Geschäftsfreund der oben genannten Person".
Arno Polzin: Die Hauptabteilung III war zuständig für die Funküberwachung. Die haben also Telefongespräche in den Westen abgehört und haben dann ihrerseits daraus Vermerke erstellt, aus dem Mitgehörten ihre Schlüsse gezogen und dann die im MfS-Apparat dafür zuständigen Diensteinheiten informiert. Die Linie VIII, die Sie auch erwähnten, war zuständig für die Beobachtung von Personen und ist gegebenenfalls auf einzelne Leute angesetzt worden, um zu verfolgen, wie deren Bewegungsmuster und dergleichen ist. Hier würde ich auf's Grobe interpretieren, dass ein abgehörtes Gespräch in der Bundesrepublik oder in Westberlin mit einem brisanten Inhalt wahrgenommen worden ist und dass man dann die Linie VIII beauftragt hat, vor Ort mal zu gucken: Was ist das Umfeld der dort ermittelten Personen. Aber mehr müsste man dann wirklich durch einen detaillierten Blick in die Akten versuchen herauszufinden.
Maximilian Schönherr: Genau, klar. Das ist sozusagen ein Anfang, wo man recherchieren könnte, wenn einen jetzt speziell dieses Thema weiter interessiert. Und dazu, was Sie gerade gesagt haben, passt auch ein dritter Fund und noch weitere dazu. Ich zitiere mal einen Fund, noch mal zu Köln: "Abhörprotokolle der Quelle Abteilung III der BV FFO - Bezirksverwaltung Frankfurt/Oder - aus Abschöpfung der Nachrichtenverbindung Bonn/Köln/Frankfurt/Berlin und Westdeutschland".
Arno Polzin: Genau, ja. Also, das war ja prinzipiell die Ausrichtung des sogenannten "Funkelektronischen Kampfes". Da ging es natürlich vorwiegend um politische Adressaten oder aus dem Bereich der Wirtschaft und des Militärs. Aber wenn dann eben auch Berichte anfielen, die andere Aufgabengebiete der Stasi berührten, dann sind entsprechend die Informationen weitergeleitet und aufgegriffen worden.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Ralf Blum: Wenn man von den Zeitschichten der Kulturgutverluste und Provenienzforschung spricht, dann gibt es nur ein Themenfeld, das in letzter Zeit so in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist: Das ist das "Koloniale Erbe". Auch da finden wir Spuren in unserem Verzeichnis, aber auch das ist erstaunlich gering, muss ich sagen. Mir ist ein kurioser Fund - ein Schrumpfkopf - in Erinnerung. Das würde ich schon dem kolonialen Bereich zuordnen. Aber trotzdem, wer da größere Funde erwartet, der ist hier doch relativ enttäuscht. Vielleicht muss man da aber auch mit einem anderen Raster rangehen und mit einem speziellen Blick noch mal draufschauen, dass man da doch was finden könnte. Wir finden Kulturgut aus allen Zeitschichten. Das reicht - was weiß ich - vom barocken Porzellanservice bis zu Kunst aus den 60er-Jahren. Aber gerade diese Bereiche, die jetzt in der Diskussion sind, also Nazi-Zeit und Koloniales Erbe, sind hier erstaunlicherweise kaum vertreten.
Arno Polzin: Die Überraschung für uns, für mich, in dem ganzen Projekt war unter anderem die Widersprüchlichkeit, mit der die staatlichen Institutionen in der DDR da unterwegs waren. Über all das, was wir heute besprochen haben - muss man sich ja nur vorstellen -, lag ein Netz von inoffiziellen Mitarbeitern. Bei den Sammlern, bei den Galeristen, bei den Museeumsleitern, in den staatlichen Institutionen und aus diesen unterschiedlichen Bereichen liefen die Informationen bei der Staatssicherheit auf. Im Einzelfall kann man sehr gut nachvollziehen, dass also Museumsleiter zum Beispiel sehr wohl ein Interesse daran hatten, ihre Schätze zu behalten. Denen war an einem Ausverkauf in Richtung Westen natürlich überhaupt nicht gelegen. Die kamen dann aber in Konflikt, wenn, wie Herr Blum vorhin sagte, so eine Ministerratsauflage kam, dass irgendwas beiseitezuschaffen wäre, um es in den Westen zu bringen. Aber das sind halt immer so Ergebnisse, die man immer nur zwischen den Zeilen liest. Die größeren Konflikte entstanden dann eher zwischen dem staatlichen Kunsthandel und den Museumsleuten, wenn dann wieder irgendeine Verkaufswelle laufen sollte und die Frage anstand: Ist das Objekt, das wir jetzt hier verkaufen wollen, Kulturgut? Dann sind die Gutachter mit einbezogen worden. Und da haben wir eine Handvoll Fälle gefunden, wo tatsächlich solche Gutachten auch manipuliert worden sind, zum Teil direkt durch Stasi-Einfluss, zum Teil durch andere Einflüsse. Und das waren dann schon interessante Entwicklungen, die ich nicht unbedingt erwartet hatte und wo dann doch zu spüren war: Hier haben unterschiedliche staatliche Interessen zu unterschiedlichen Einzelfalllösungen geführt. Dass also einerseits Sachen hochgestuft worden sind, damit sie nicht verkauft werden können, und andere Sachen wurden wieder runtergestuft, damit sie [betont: doch] verkauft werden können.
Maximilian Schönherr: Bei der Handschrift von Goethe, die man in der Aktion "Licht" fand, könnte man genau darüber diskutieren: Kommt das in ein DDR-Museum oder verkaufen wir die besser?
Arno Polzin: Den Einzelfall kenne ich nicht, aber das wäre genau so ein Beispiel, wo Weimar natürlich sagen würde: Das geben wir um Gottes willen nicht raus. Und ein Außenhändler sieht natürlich sofort Tausend Nullen vor seinem geistigen Auge und will versuchen, das zu versetzen, ne.
Maximilian Schönherr: Ich hätte jetzt gerne zu unserem Abschluss doch was Anekdotisches. Haben Sie irgendeinen Fall gefunden bei der Recherche zu diesem Buch, wo Sie gerne weiter recherchieren würden?
Arno Polzin: Ach, mehrere. Ich bringe mal den Münzhändler Mader ins Spiel. Adolf Mader war ein Münzhändler in der DDR, der eine große eigene Sammlung hatte, als anerkannter Gutachter in dem Bereich in der DDR tätig war und auch ein international hohes Renommee hatte. Er war mehrfach im Westen und hat Münzgeschäfte offiziell getätigt, aber offenbar dabei Praktiken angewandt, die in den Unterlagen, die wir gesehen haben, nicht näher beschrieben werden, aber mit "unkonventionell" betitelt werden. Und er soll Kenntnis davon gehabt haben, dass über einen Zeitraum von zehn Jahren jeweils zirka eine Million Mark illegal der DDR erwirtschaftet werden konnten. Das sind natürlich Sachen, da fragt man sich: Wie waren denn diese unkonventionellen Mittel, die er da gefunden hat? Dazu kommt dann, dass dieser Mann bei einer Dienstreise im Westen geblieben ist und vorher schon seine eigene private Münzsammlung in mehreren Chargen illegal in den Westen verbracht hat, sich also damit seine finanzielle Basis aufbauen konnte, aber dann doch noch so viel - in Anführungszeichen - "Ehrgefühl" hatte, dass er, obwohl er schon verlautbart hatte, dass er im Westen bleibt, die Unterlagen, die er dabeihatte, und die Summen, die er noch zugunsten der DDR aus den letzten offiziellen Aktivitäten bei sich hatte, abholen lassen hat und ordnungsgemäß protokollarisch übergeben hat. Das sind natürlich so schizophrene Konstellationen, wo man gerne in die sicher umfangreiche IM-Akte mit reingucken würde, die dazu vorhanden ist. Das ist in dem Rahmen jetzt nicht möglich gewesen. Aber das ist halt ein Beispiel für gleich mehrere Konstellationen. Ich hab vorhin erwähnt, dass es ja Möglichkeiten gab, umfangreiche Sammlungen auch steuerbefreit zu bekommen. Und in dem Falle war es so. Er hatte eine Sammlung, die wurde, glaube ich, zum Schluss auf zweieinhalb Millionen Wert geschätzt. Seine private Münzsammlung. Die hätte er versteuern müssen, Vermögensteuer wäre da angefallen. Weil er aber diese Sammlung als sogenannte Belegsammlung für seine Gutachtertätigkeit interpretieren konnte und diese Interpretation gebilligt wurde, hat man ihn da also auch noch von dieser Steuer befreit. Also auch wieder ein Beispiel dafür, welche Möglichkeiten es gab. Aber dann kommen eben ganz schnell die Grauzonen, aus denen private Interessen Nahrung fanden, die dann zu oft für die DDR unerwünschten Ergebnissen führten.
Maximilian Schönherr: Wie geht's dem heute oder wie ging's dem später? Wurde er in Westdeutschland von der Stasi in Ruhe gelassen?
Arno Polzin: Ähm, mir ist nichts weiter bekannt. Die letzte Spur war, dass es noch mal Aufregung gab, weil er offenbar privat versucht hat, was zu verkaufen, was ein anderer Republikflüchtling oder vielleicht sogar vorher schon Bestrafter und Inhaftierter wiedererkannt hat.
Maximilian Schönherr: [lacht leise]
Arno Polzin: Das sind natürlich auch Einzelfälle, die der DDR gar nicht gefallen haben, die im Einzelfall auch dazu führten, dass es dann bei Verkaufsabsichten 'ne Order gab, das nicht in der Bundesrepublik oder in Westberlin anzubieten, sondern mindestens nach Übersee zu verschaffen wäre. Solche Fälle gibt es eine Handvoll. Eine ist mit der Person Mader verbunden, aber was an weiteren Beobachtungen oder anderen Geschichten durch die Staatssicherheit gelaufen ist, weiß ich nicht, nein.
Maximilian Schönherr: Herr Blum, Sie lächeln. Haben Sie auch noch ein Beispiel?
Ralf Blum: Ja, ich hätte noch viele Fragen, wo man anknüpfen könnte, basierend aber auf nur vagen Hinweisen. Einerseits steht eine Zusammenstellung der Funde bei ungeklärten Todesfällen oder auch der Funde bei Funktionären am Ende der DDR noch aus. Also, Erich Honecker soll auch einen Picasso gehabt haben. Da müsste man mal genauer gucken, was prominente Persönlichkeiten da zurückgelassen haben. Das ist das eine. Und ein zweiter Bereich, der mich interessieren würde, wäre die Frage der Fälschungen: Wie weit war hier der Staat, möglicherweise in Gestalt der Stasi oder auch über andere Institutionen, verwickelt in Fälschungen, hochqualitative Fälschungen, die nicht sofort auffielen? Stichwort Briefmarken. Da lassen sich mit leichten Manipulationen immense Werte kreieren. Aber auch klassischerweise Gemälde. Wie frisiert man Gemälde, wie praktiziert man da eine wichtige Unterschrift rein? solche Fragen.
Maximilian Schönherr: Oder die Handschrift von Goethe. Die könnte man auch gut nachmachen mit Tinte.
Ralf Blum: Ja ja, natürlich. Also, als Voraussetzung Kreativität, Dreistigkeit, aber auch Talent, die richtigen Leute zusammenzubringen und dann eine Strecke zu eröffnen, die man zuerst mit richtigem Material bespielt und dann aber auch Manipulationen unterschiebt. Das könnte so ein Ausgangspunkt sein. Aber wie gesagt, da spielen auch womöglich Zeitzeugen und vor allen Dingen Hinweise - mündliche Hinweise - eine Rolle, die man erst mal richtig einordnen muss. Und dann kann man eventuell nach schriftlichen und sonstigen Spuren suchen.
Maximilian Schönherr: Aber nach dem Stichwort "Fälschungen" haben Sie nicht in der Datenbank gesucht, oder?
Ralf Blum: Na ja, die Fragen kamen immer auf uns zu, ob es Hinweise auf gezielte Fälschungen gab. Und die Stasi selber meinte auch, mitunter auf Spuren von Fälschungen und Fälscherwerkstätten gekommen zu sein. Das ist auch wieder so eine ambivalente Rolle der Stasi. Womöglich war sie teilweise selber beteiligt, aber auch dann am Aufdecken interessiert. Mitunter ging sie dann auch solchen Hinweisen nach.
Arno Polzin: Die Überraschung für mich als schon seit über 20 Jahren in Stasi-Akten Lesenden war, einen Blick auf Segmente der DDR zu bekommen, die wir vorher gar nicht so im Blick hatten. Bisher haben wir ja eher Repressionsforschung betrieben, wir haben Opposition und Widerstand versucht zu dokumentieren. Und in dem Falle waren die Opfer ganz anders zu definieren. Es gab Einblicke in DDR-Felder, die mir als DDR-Bürger selber damals nicht bekannt waren und die ich mir auch jetzt erst - 25, 30 Jahre nach dem Mauerfall - neu anlesen musste. Und das, was Herr Blum auch sagte oder was Sie anfragten, geht jetzt zum Teil in den Bereich von Fälschungen, von Manipulationen. Das ist alles unterhalb der Ebene Kulturgut. Aber es gab tatsächlich Leute, die mit einer unglaublichen Kreativität unterwegs waren, um Preisunterschiede in den Goldgeschäften im Ostblock und im Westblock zu kennen und zu nutzen. Es gab Leute, die hatten das handwerkliche Geschick, dass sie Münzen halbiert und die Vorder- und Rückseiten neu kombiniert haben, um dadurch angeblich seltene Jahrgänge zu kreieren. Und das erst mal zu ergründen und dann das Potenzial zu haben, sowas durchzuziehen, das ist natürlich eine doppelt anspruchsvolle Leistung. Klar, dass die Stasi dann dahinterkam und das entsprechend gemaßregelt hat. Aber das waren alles so Sachen, die mir vorher natürlich nie unter dem Begriff Stasi-Akten-Forschung in den Sinn gekommen wären.
Maximilian Schönherr: Ich danke Ihnen für das Gespräch. Sie gehen jetzt in Ihre Büros einen Stock tiefer?
Arno Polzin: Fünf, sechs Stockwerke tiefer.
Ralf Blum: Oder auch im anderen Haus. Wir bestehen ja aus mehreren Häusern.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das waren meine Kollegen Ralf Blum und Arno Polzin, wissenschaftliche Mitarbeiter der Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv. Sie sprachen über ihre Publikation "Auf der Suche nach Kulturgutverlusten - Ein Spezialinventar zu den Stasi-Unterlagen". Sie finden das Buch auf der Webseite des Archivs. Gegen eine Schutzgebühr können Sie es auch bestellen, allerdings ist die kostenlose Onlineversion umfangreicher und verzeichnet wesentlich mehr Fundstellen.
Maximilian Schönherr: Unser Podcast endet wie immer mit einer akustischen Begegnung mit dem riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Bis zum Mauerbau 1961 verließen zirka 4 Millionen Menschen die DDR, um im Westen ein neues Leben zu beginnen. Aber es gab auch die Westflüchtlinge, laut Wikipedia etwa 550.000 in der Zeit des Kalten Krieges. Und nur ein Drittel kam als Zuziehende in die DDR. Die anderen zwei Drittel waren Rückkehrer, die aus der DDR in den Westen geflohen waren. In der Stasi-Mediathek gibt es Ausschnitte aus der Tondokumentation "Zurückgekehrt - Interviews mit Enttäuschten" aus den 1980er-Jahren. Der staatliche Sender Schwerin berichtete kurz vor Weihnachten 1958 über eine Umsiedlerfamilie aus der Bundesrepublik. Wir hören den gesamten, technisch nicht ganz perfekten Beitrag von 4 Minuten 40.
[Archivton Beginn]
[technischer Dauerstörton]
[Sprecherin:] Voller Hoffnung und Erwartungen schlagen in diesen Tagen viele Kinderherzen. Das Weihnachtsfest steht vor der Tür. Mit Ruhe und Zuversicht sieht man in vielen Familien dieser Weihnacht entgegen. Auch bei der Familie Stein aus der Schweriner Münzstraße, die erst vor kurzer Zeit aus Westdeutschland in unsere Republik übersiedelte und die unsere Reporterin Ingeborg Aulbach besuchte.
[Reporterin:] Nett haben Sie es hier. Wissen Sie, wenn ich mich so umschaue, also, das Erste, was einem eigentlich ins Auge fällt, das sind da die zwei Aquarien - beleuchtet. [unverständlich] Ich weiß nicht, was das für Fische sind. Sind das kleine Goldfische oder so? Ich bin also ein [betont: absoluter] Laie. Was sind das?
[Herr Stein:] Warmwasserfische.
[Reporterin:] Warmwasserfische [lacht leicht]. Und dann haben Sie ja hier auch noch so 'nen Kasten. Sieht ja fast aus wie in einem Zoo.
[Herr Stein:] Das sind kleine Goldhamster. Denen hab ich das Terrarium eingerichtet.
[Reporterin:] Das ist sozusagen Ihre Liebhaberei, ja?
[Herr Stein:] Ja, wenn man es so nennen möchte. [lacht leicht]
[Reporterin:] Und, na, also, besonders imponiert mir natürlich hier diese Sitzecke: diese kleinen Sitzschalen, dunkelbraun mit gelbem Muster, ein dreieckicher Tisch dazu und ein ganz entzückendes kleines Sitzsofa. Also, so eine [betont: ganz] moderne Sitzecke, ja?
[Herr Stein:] Wir sind ja erst vor Kurzem hierhergekommen und wir mussten jetzt natürlich von vorne wieder einrichten.
[Reporterin:] Eine Zwischenfrage: Ihre Frau ist nicht da, nein?
[Herr Stein:] Nein. Vor Weihnachten sind natürlich viele Besorgungen zu machen.
[Reporterin:] Auf Weihnachten freuen Sie sich doch sicher, ja?
[Herr Stein:] Das ist klar. Es wird bestimmt 'n ganz anderes Weihnachten werden, ja. Hier unseren Tisch, dann werden wir natürlich 'nen Weihnachtsbaum aufstellen und wir werden uns auch allerhand anschaffen und zu Weihnachten schenken können, wenn [unverständlich; überlagerte Stimmen]
[Reporterin:] Ja, da wollte ich eben grade fragen, was Sie Ihrer Frau zum Beispiel schenken. Jetzt ist sie ja nicht da, da können wir ja ruhig drüber sprechen, nicht? [lacht leicht]
[Herr Stein:] Mh mh. Ja, also eigentlich, einen festen Plan hab ich noch nicht. Wir haben natürlich in erster Linie noch für unsere Wohnung zu sorgen. Es ist ja noch vieles, was noch im Argen liegt. Hier fehlt noch [unverständlich]. Ich denke, vielleicht so 'nen Kleiderstock oder so, irgendwas in dieser Art. Wir werden schon was finden. [lacht leicht]
[Reporterin:] Das wird für Sie ein ganz besonderes Weihnachtsfest werden, Herr Stein.
[Herr Stein:] Ja. Das ist das erste hier in der Deutschen Demokratischen Republik.
[Reporterin:] Ja. Vielleicht können wir mal zurückblenden. Wie war das denn im [kurze Sprechpause] vorigen Jahr, zum Weihnachtsfest 1957? Wo kommen Sie her?
[Herr Stein:] Ich komme aus Gießen. Das liegt in Hessen. Das ist 'n selbst von drüben anerkanntes Notstandsgebiet.
[Reporterin:] Was sind Sie von Beruf, Herr Stein?
[Herr Stein:] Ich bin Maschinenschlosser, allerdings meist als Hilfsarbeiter beschäftigt, weil's - äh - bei uns keine Industrie gab. Wir - äh - haben das ganze Jahr über gearbeitet, das heißt von Frühjahr bis Herbst, und - äh - spätestens zum 1. Dezember wurden wir entlassen. Denn wer nach dem 1. Dezember noch beschäftigt war, der musste vom Unternehmer einen halben Monats[unverständlich] als Weihnachtsgratifikation bekommen. Und um diesen Zahlungen aus dem Weg zu gehen, haben uns die Unternehmer eben kurz vorher rausgeworfen. Und wenn man dann noch berechnet, dass wir dann [betont: gerade im Dezember] kein Geld mehr bekamen, denn die Unterstützung, die lief dann ja erst später an und -äh - dann - äh - auch die höheren Preise in Betracht zieht. Wir haben dann-- Die Miete zum Beispiel: das Vierfache von dem hier bezahlten Betrach. Dann hatten wir Kartoffeln mit 12 Mark pro Zentner, 12,50 Mark bei der Anfuhr, ne. Mit Kohlen 4,50 Mark, 5,50 Mark, je nachdem, welche Kohlen man nun nahm. Dann hatten wir auch viel teurere [lautes Brummgeräusch] Lebensmittel wie Brot - 4 Pfund Brot 1 Mark und 60 Pfennig - und Brötchen 8 und 9 [Anmerkung: Pfennig], je nach der Art. Also, ich meine, es war doch immerhin 'ne große Geldausgabe, überhaupt den Lebensunterhalt zu bestreiten. Und dann gerade Weihnachten ohne Geld dasitzen, dann war es meist eine recht traurige Angelegenheit.
[Reporterin:] Ja, das kann ich mir vorstellen. Sie sagten eben, dass Sie für Miete das Vierfache bezahlt haben. Was haben Sie denn für 'ne Wohnung gehabt?
[Herr Stein:] Ja, wir hatten zwei kleine Dachstübchen. Die ließen sich nicht heizen. Also, wir saßen im Winter kalt und hatten für diese zwei ausgebauten Dachstübchen nun 60 D-Mark zu zahlen - also D-Mark heißt es ja nur noch drüben, ne - und hier zahlen wir für ein großes Zimmer, das den gleichen Flächeninhalt aufweist und sich, wie Sie ja bemerken können [lacht leicht], sehr gut heizen lässt,--
[Reporterin:] Na eben. Ich sagte ja, es ist sehr warm, als ich zu Ihnen reinkam.
[Herr Stein:] Mh. Also, für dieses Zimmer zahlen wir 13 Mark. Ich hab mir das schon mal überlegt. Und zwar zahle ich ungefähr 100 Mark weniger für Grundlebensmittel, Miete und so weiter und verdiene 100 Mark mehr als drüben. Also hab ich praktisch 200 Mark mehr. Wir haben hier ein viel sichereres Gefühl. Wir werden nicht arbeitslos und wir haben dann ewig Geld und können uns dann praktisch alles kaufen, was wir brauchen. Drüben war das ja wesentlich anders. Der Staat drüben sorgt ja nicht so für seine Menschen. In - äh - diesem Staat da leben die Menschen 'n bisschen unsicherer.
[Reporterin:] Aber ein bisschen sehr unsicher, nicht?
[Herr Stein:] Oh ja, doch. Sehr viel unsicherer. Denn es ist so: Drüben macht man Wirtschaftspolitik nicht nach Gesichtspunkten des ganzen Volkes, sondern nach Gesichtspunkten einzelner Leute, die an dieser Wirtschaftspolitik verdienen wollen, während es hier so ist, dass hier das ganze Volk an der Wirtschaftspolitik mitarbeitet, das ganze Volk auch mitarbeiten [betont: muss], um eine gesicherte Wirtschaft zu haben, und überhaupt die Sicherheit des Einzelnen von seiner Mitarbeit abhängt.
[Archivton Ende]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten –
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."