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Kämpfende Hirsche für den Spionagechef

Vom 30. Juli bis zum 2. August 1983 reiste Markus Wolf mit seiner Familie in den Bezirk Suhl. Der Besuch des stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit und Chefs der Hauptverwaltung A (HV A) im Süden der DDR lässt sich anhand überlieferter Stasi-Unterlagen rekonstruieren.

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Regelmäßig verließen Erich Mielke und seine Stellvertreter die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin-Lichtenberg, um Bezirksverwaltungen (BV), Kreisdienststellen (KD) und weitere Objekte der Geheimpolizei zu besuchen. Von Rostock im Norden bis Suhl im Süden der DDR nahm die MfS-Führung an verschiedenen Ereignissen teil. Dazu zählten unter anderem Parteiversammlungen und Dienstberatungen, die Verabschiedung altgedienter Kader in den Ruhestand oder die Eröffnung fertiggestellter Bauprojekte. Die Besuche umfassten in der Regel neben den dienstlichen Belangen auch ein touristisches Rahmenprogramm, darunter Jagdausflüge, Stadtrundgänge und gesellige Abendveranstaltungen. Nicht selten zählten Familienmitglieder zur Entourage – auch sie mussten bei den entsprechenden Planungen berücksichtigt werden.

Markus Wolf leitete von 1952 bis 1986 die Auslandsspionageabteilung des MfS, die HV A. Diese rekrutierte unter Wolfs Anleitung Bundesbürgerinnen und -bürger als inoffizielle Quellen und schleuste DDR-Bürgerinnen und -Bürger mit konkreten Spionageaufträgen in den Westen. Eingebettet in die Strukturen des MfS, war die HV A mitverantwortlich für Willkür, Unterdrückung, Misstrauen und Verrat. Das Hauptaugenmerk ihrer Spionageaktivitäten lag in der Bundesrepublik und in West-Berlin.

In der Überlieferung der MfS-Bezirksverwaltung Suhl sind zwei Arbeitsbesuche Wolfs anhand diverser Fotografien und Dokumente belegt. Mutmaßlich hielt sich der Spionagechef aber mehr als zwei Mal im Süden der DDR auf, denn die nachrichtendienstliche Tätigkeit der HV A wurde auch von hier aus gelenkt.

Die Abteilung XV der BV Suhl

Die HV A und ihre nachgeordneten Diensteinheiten in den Bezirken, die Abteilungen XV, hatten die Bundesrepublik und West-Berlin in operative Einsatzgebiete aufgeteilt: Die Abteilung XV der BV Suhl war zuständig für den Freistaat Bayern, speziell für Nordbayern und München. In Zusammenarbeit mit MfS-Mitarbeitern aus Gera und Berlin-Lichtenberg forschte sie unter anderem folgende Einrichtungen aus:

  • das Innenministerium,
  • den CSU-Landesvorstand,
  • die Universität Augsburg,
  • das Landesamt für Verfassungsschutz,
  • die Junge Union,
  • die Hanns-Seidel-Stiftung,
  • die Hochschule der Bundeswehr,
  • das Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried.

Auch die für Grenzschleusungen in der HV A zuständigen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Grenze agierten vom Bezirk Suhl aus. Schließlich bot dieser mit seinen über 390 Kilometern Grenzverlauf zur Bundesrepublik – dem längsten Grenzverlauf aller DDR-Bezir­ke – aus Sicht der Geheimpolizei gute Bedingungen: Hier ließen sich unbemerkt Personen und Materialien nach Hessen und Bayern schleusen. Auch die im Süden der DDR vorherrschende Mittelgebirgstopografie spielte der HV A und dem sowjetischen Bruderdienst KGB in die Hände: Von den Höhenzügen des Thüringer Waldes und der thüringischen Rhön aus ließen sich im Rahmen der Funkaufklärung stetig Informationen aus dem Westen gewinnen.

Reiseplanung beim MfS

Die Planungen für den Kurzbesuch Wolfs begannen im Juni 1983. Am Anfang stand ein erster Austausch zwischen der HV A und der Abteilung XV der BV Suhl bzw. der Leitung der BV Suhl. Wolf, der sich zu dieser Zeit noch im Urlaub befand, ließ sich kurze Zeit später die Programmpunkte vorlegen und bestätigte diese persönlich.

GO [Generaloberst] Wolf mit unseren Vorschlägen einverstanden und überlässt uns Gestaltung. Vorschläge für Frau werden sehr [von Markus Wolf] begrüßt.“

Handschriftlicher Vermerk der Abteilung XV der BV Suhl vom 20. Juli 1983

Die HV A übermittelte der BV Suhl in diesem Kontext auch Vorschläge für Geschenke sowie für Speisen und Getränke. Wolf, so halten es die Unterlagen fest, interessierte sich für ein Luftgewehr aus der Waffenstadt Suhl und seine damalige Ehefrau für ein komplettes Frühstücksservice aus Römhild. Hinsichtlich der kulinarischen Planungen war zu beachten: "nicht so viel auf einmal, dafür aber öfters; verschiedene Salate ohne Mayonnaise; Frühstück mit Quark und Weißkäse, vorwiegend weißen Schnaps; trockene Weine aus DDR (Saale-Unstrut/ Meißen) Säfte: Apfelsaft/ Kirschsaft etc. weniger Orange/ Grapefruit."

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

Zwischenstopp in Erfurt

Familie Wolf startete am Donnerstag, dem 28. Juli 1983, von Ost-Berlin aus in Richtung Süden und erreichte Erfurt. Markus Wolf wurde vom Leiter der BV, Josef Schwarz, begrüßt und traf sich zum Mittagessen mit dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Gerhard Müller. Am gleichen Tag besuchte Wolf eine der beiden großen Lutherausstellungen in Erfurt. Am Tag darauf standen eine Werksbesichtigung beim VEB Umformtechnik im Erfurter Norden und ein Besuch der Wachsenburg bei Arnstadt auf dem Programm. Am Samstag, dem 30. Juli 1983, fuhr die Familie des HV A-Chefs nach Eisenach, besuchte die Wartburg und aß dort zu Mittag. Im Anschluss ging es Richtung Süden in den Thüringer Wald. Wolf hielt bei Gräfenroda an und traf Martin Weikert in seinem Jagdhaus. Der altgediente MfS-Leitungskader feierte dort seinen 69. Geburtstag. Wolf überbrachte Glückwünsche aus der Ost-Berliner Stasi-Zentrale.

Begrüßung an der Bezirksgrenze

Die im Stasi-Unterlagen-Archiv Suhl überlieferten Dienstkalender des Leiters der BV Suhl, Gerhard Lange, halten fest, dass "Gen[osse] Mischa Wolf" um 17:00 Uhr auf den Höhenzügen des Thüringer Waldes, an der Bezirksgrenze bei Oberhof, eintraf. Nach Willkommensgrüßen Langes und des Leiters der Suhler Abteilung XV fuhr der Fahrzeugtross zum nahegelegenen Gästehaus. Für die Ost-Berliner Gäste war die Sicherheit am Objekt verstärkt worden. Ob Lange sein Geschenk für Wolf, nämlich eine Holzplastik kämpfender Hirsche, hier übergab oder zu einem späteren Zeitpunkt ist in den Unterlagen nicht überliefert.

Am Sonntag, dem 31. Juli 1983, standen diverse Termine an, wie der  Besuch des Turmcafés des Suhler Ringberghauses, des heutigen Ringberghotels, und eine Stadtrundfahrt durch die Suhler Innenstadt. Meiningen, wo das Schloss Landsberg und die Sandsteinhöhle Walldorf auf die Besucher warteten, war das nächste Ziel. Anschließend fuhren die Gäste in die Rhön an, wo sich das MfS-Ferienheim "Katzenstein" befand. Dieses lag unmittelbar an der innerdeutschen Grenze. Die Erhebungen der bayerischen und hessischen Rhön waren dort für den Spionagechef ganz nah. Nach einer ausgedehnten Kremserfahrt am Nachmittag endete der Tag im hauseigenen "Rhönkeller" des MfS-Ferien­heim – mit einem speziellen Folkloreabend inklusive Alleinunterhalter.

Nach der Rückfahrt in die BV Suhl stand ein Arbeitsgespräch zwischen Markus Wolf und Gerhard Lange an. Über die Gesprächsinhalte ist nichts bekannt, nur, dass sich der Leiter der Abteilung XV und Langes Stellvertreter Operativ, so wird es in einem Aktenvermerk hervorgehoben, für etwaige Detailfragen ständig bereithalten mussten. Auch die Vormittagsgestaltung für Wolfs damalige Frau und seinen Sohn dokumentierte das MfS.

Mückenspray für die Ansitzjagd

Am selben Tag suchten die Wolfs die Jagdhütte der BV Suhl bei Viernau auf. Am frühen Abend gingen Markus Wolf und das Leitungspersonal der BV Suhl – allesamt passionierte Weidmänner – in der Nähe des Tellerberges auf die Jagd. Selbstverständlich hatten die Planer – so dokumentieren es die Stasi-Unterlagen – auch an Mückenspray gedacht. Stunden später erfolgte die Rückfahrt in das Gästehaus der BV nach Suhl.

Dienstagvormittag schaute sich Wolf zusammen mit Gerhard Lange den VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk an. Welche Betriebsteile er dabei sah, also die Jagdwaffen- oder "Simson"-Moped-Fertigung, ist nicht überliefert. Es kam allerdings zu einer Unterredung mit dem Direktor der Jagdwaffenproduktion und dem Stellvertretenden Generaldirektor. Zur Erinnerung an die Besichtigung wurde Wolf dann feierlich ein Luftgewehr überreicht. Nach einem Mittagessen um 13:00 Uhr, so notierte es Gerhard Lange in seinem Dienstkalender, erfolgte die "Verabschiedung [des] Genossen Generaloberst Wolf und Abfahrt nach Berlin."

Nachweislich hielt sich Markus Wolf wieder am 23. Mai 1989 in Suhl auf. Drei Jahre zuvor war er aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. In einer Buchhandlung der Bezirksstadt präsentierte er seinen Beststeller "Die Troika". Die Lesung war gut besucht und Wolf signierte Bücher. Ob ihm wieder der Genuss einer privilegierten "Rund-um-Sorglos"-Betreuung durch die hiesige BV gewährt wurde, ist nicht belegt. Wolf gerierte sich nun als Anhänger des Reformkurses des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michael Gorbatschow und verstand es in der Folgezeit, sich als Geheimdienst-Gentleman zu verkaufen. Dabei bemühte er sich auch, die Mitverantwortung der Auslandsspionageabteilung im Gefüge des MfS in der SED-Diktatur herunterzuspielen. Auf Anweisung der letzten DDR-Regierung konnte sich die HV A in Eigenregie auflösen. In diesem Zusammenhang wurden ihre Unterlagen und Datenträger nahezu vollständig vernichtet.

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Der Aufstieg des Markus Wolf

Am 15. Dezember 1952 wurde Markus Wolf Leiter des außenpolitischen Nachrichtendienstes. Dabei handelte es sich um die Auslandsspionage der DDR, die unter dem Tarnnamen IWF (Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung) firmierte und unter strenger sowjetischer Aufsicht stand. Wolf begann damit eine der längsten hauptamtlichen Karrieren in einer Führungsposition im Ministerium für Staatssicherheit und seiner Vorläufer.