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Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Marianne Birthler verabschiedet sich aus dem Amt.
Nachricht

"Die Vergangenheit studieren um der Gegenwart und Zukunft willen"

Abschiedsrede von Marianne Birthler bei der Amtsübergabe am 14. März 2011

Am Abend des 14. März 2011 endete die mehr als zehnjährige Amtszeit von Marianne Birthler als Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU). In ihrer Abschiedsrede ging sie auf Kritiker ein, auf die europäische Dimension der Diktatur-Aufarbeitung, auf die wachsende Relevanz der Bildungsarbeit der BStU und auf europaweit fehlendes Geschichtsbewusstsein. Dabei gehöre der immer wieder blutig niedergeschlagene Widerstand gegen die kommunistischen Diktaturen in Osteuropa "zum besten, was europäische Freiheitsgeschichte zu bieten hat".

Der Text der Rede von Marianne Birthler im Wortlaut

"Lieber Roland Jahn, Du bist von heute an der Chef vieler, sehr vieler gewissenhafter, ideenreicher und loyaler Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, denen die Aufarbeitung der SED-Diktatur ein Herzensanliegen ist. Sie werden Dich nach besten Kräften unterstützen, und Du kannst – das sage ich aus eigener Erfahrung - eine Menge von ihnen lernen. Mit dem Ruf „Freiheit für meine Akte“ fing alles an. Als die ersten Stasi-Dienststellen besetzt wurden, ging es aber weniger darum, ein zeitgeschichtliches Archiv zu schaffen. Vielmehr verlangten die Menschen einfach nur zurück, was die Staatssicherheit ihnen gestohlen hatte. Sie wollten wissen, wie der Apparat in ihr Leben eingegriffen und wer sie verraten hatte.

Sie wollten Würde und Souveränität wiedergewinnen, und sie wollten endlich den Beweis dafür, dass ihnen Unrecht geschehen war. Auch in den nächsten fünf Jahren werden Menschen nach ihren Akten fragen, viele zum ersten Mal. Und sie werden bei der Lektüre weinen oder zornig werden oder Genugtuung empfinden und vielleicht endlich ihren Frieden. Ich bin in den zurückliegenden Jahren vielen Menschen begegnet, die ihre Akten lieber nicht sehen wollen – auch das ist ihr Recht. In all den Jahren habe ich aber niemanden getroffen, dem es nachträglich Leid tat, sich Gewissheit verschafft zu haben. Jeder einzelne Antrag auf Akteneinsicht ist eine persönliche Entscheidung gegen das Schweigen und das Verdrängen. Und damit werden die Statistiken zu einem politisch und gesellschaftlich höchst relevanten Befund: Auch wenn wir immer wieder befremdet die zahlreichen Versuche zur Kenntnis nehmen müssen, die Fehler und Verbrechen der Vergangenheit zu verleugnen und die Diktatur zu verharmlosen: Es gibt hierzulande eben auch die millionenfache Bereitschaft, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Das erste Jahrzehnt der Behörde war von unzähligen schockierenden Entdeckungen in den Akten und von spektakulären Enthüllungen geprägt. Das gibt es alles immer noch, aber der Schwerpunkt der öffentlichen Debatte hat sich in den vergangenen Jahren verlagert. Immer mehr kommt in den Blick, was hier hinter mir zu lesen ist: Wir studieren die Vergangenheit um der Gegenwart und der Zukunft willen. Der Gesetzgeber hatte seinerzeit genau dies im Blick, als er dem Bundesbeauftragten einen Forschungs- und Bildungsauftrag erteilte.

Insbesondere geht es darum, möglichst vielen Jugendlichen möglichst gute Bildungsangebote zu vermitteln. Hier haben wir in den letzten Jahren viel Mühe aufgewandt und – mit Verlaub – auch Maßstäbe gesetzt. Inzwischen ist die erfreulich steigende Nachfrage aus den Schulen von dem kleinen dafür zuständigen BStU-Team kaum noch zu bewältigen – dennoch wünschen wir uns, dass sich diese erfreuliche Entwicklung fortsetzt.

Noch ein anderes Thema hat an Bedeutung gewonnen: Die europäische Dimension der Aufarbeitung. Die westeuropäische Geschichtskultur ist durch die Katastrophe, die Deutschland unter der Herrschaft der Nationalsozialisten über Europa gebracht hat, tief geprägt. Ohne sichtbare Zeichen dafür, dass Deutschland seine Schuld bekannte und sich glaubwürdig damit auseinandersetzte, wäre Europa heute nicht, was es ist. Doch zur europäischen Geschichte gehört auch, dass die Menschen in den von Krieg und Naziherrschaft geschwächten Nationen Mittel- und Osteuropas vergeblich auf Freiheit hofften. Die in den kommunistischen Diktaturen Europas millionenfach Entrechteten, Gefangenen und Ermordeten haben im gesamteuropäischen Geschichtsbild noch keinen würdigen Platz gefunden – ebenso wie der immer wieder blutig niedergeschlagene Widerstand, der zum besten gehört, was europäische Freiheitsgeschichte zu bieten hat.

Jorge Semprun, ehemaliger Häftling im KZ Buchenwald, fand dafür deutliche Worte: "Der … Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa - dem anderen Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen war - kann kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden.

Vor zwei Jahren, als sich der Hitler-Stalin-Pakt zum 70. Mal jährte, verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution, die die Aufarbeitung des Kommunismus endlich offiziell auf die europäische Agenda gesetzt hat.
Ein kleines Zeichen dieses veränderten Bewusstseins war im Übrigen auch die Möglichkeit, vor wenigen Wochen unsere Wanderausstellung im Europäischen Parlament zu zeigen.
Die zahlreichen Kontakte mit Ländern, die nicht-kommunistische Diktaturen überwunden haben, seien hier ebenfalls erwähnt: Spanien, der Irak, Argentinien, Chile und Brasilien, Südafrika und neuerdings, wie sich abzeichnet, auch Ägypten.

Bei aller Verschiedenheit der Ausgangslagen zeigt sich in all diesen Gesprächen, dass es schließlich immer um ganz ähnliche Fragen geht: Was brauchen die Opfer? Was geschieht mit den Tätern? Wie werden Beweise und Akten gesichert? Und wie kann Erinnerungskultur dazu beitragen, die kulturellen und zivilisatorischen Folgeschäden von Diktaturen zu heilen?

Und damit bin ich auch wieder bei der Stasi-Unterlagen-Behörde, ihren Aufgaben und ihren Themen.

Die zehn Jahre meiner Amtszeit waren für mich eine gute Zeit - auch wenn so mancher Konflikt auszutragen war: Zwischen Aktenöffnung und Datenschutz, zwischen dem Anspruch der Öffentlichkeit auf die Wahrheit und den Anfeindungen jener, die sie nicht preisgeben wollen, zwischen ungeduldigem Aufklärungswillen und bürokratischen Notwendigkeiten.

Da nimmt es nicht Wunder, wenn die Behörde umstritten und immer wieder in der Kritik ist. Ich gehe noch weiter: Wenn wir so arbeiten würden, dass sich niemand an uns reibt, hätten wir wahrscheinlich unseren Auftrag verfehlt.

Im Übrigen benutzen die Kritiker Argumente, die sich gegenseitig ausschließen. Die einen sehen die Behörde als Instrument der Siegerjustiz mit dem besonderen Auftrag, die Linkspartei zu diffamieren. Die anderen behaupten, sie sei ein Refugium ehemaliger DDR-Staatsdiener und schütze noch dazu aus fragwürdigen Motiven heraus den einen oder anderen Täter. Sie sehen: Das geht ja irgendwie nicht zusammen.

Für mich liegt in diesen Angriffen deshalb auch etwas Beruhigendes: Wenn uns auf der einen Seite die immer noch aktiven DDR-Anhänger kritisieren und auf der anderen Seite die vergangenheitspolitischen Linienrichter der Nation – dann können wir ja nicht alles falsch gemacht haben.

So – das war bis auf weiteres mein letzter öffentlicher Kommentar zur Arbeit der Behörde und ich kehre zu dem zurück, was sich für eine anständige Abschiedsrede gehört.

Ich war sehr gern Bundesbeauftragte, und ich empfinde im Rückblick vor allem Dank: für gute Zusammenarbeit viel Unterstützung, für spannende Diskussionen, für alles, was ich lernen und erfahren durfte, und für wunderbare und eindrückliche Begegnungen mit bekannten und unbekannten Menschen.

Dankbar bin ich auch allen, die ich in Anspruch nehmen konnte, wenn ich ratlos war oder wenn die Behörde „in schwere See“ geriet. Die meisten davon sind hier: Der langjährige Vorsitzende unseres Beirats, Richard Schröder, Wolf und Pamela Biermann und viele, viele weitere politische und persönliche Freunde. Ich danke unseren Beiräten und den wissenschaftlichen Beratern für ihre zugleich solidarische und kritische Begleitung, die mir immer sehr wichtig war.

Dank gebührt auch all jenen Abgeordneten, denen das Anliegen der Aufarbeitung immer wichtig war und geblieben ist, darunter die Innenpolitiker, die es seinerzeit gewagt haben, ein Gesetz zu verabschieden, für das es kein Modell gab und dessen Auswirkungen schwer vorauszusagen waren.

Vor allem aber danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Behörde, insbesondere jenen, die als Vorgesetzte in Berlin oder den Außenstellen eine hohe Verantwortung tragen. Für mich war es eine wertvolle Erfahrung, dass ich mich mit Ihnen immer offen beraten und dabei ihrer Loyalität sicher sein konnte.

Ganz persönlich danke ich meinen allerengsten Mitarbeiter im Leitungsbüro, im Geschäftszimmer und unterwegs. Sie haben nicht nur die täglich Arbeitsflut bewältigt, sondern sind für mich zu wichtigen Ratgebern und absoluten Vertrauenspersonen geworden. Ich werde Sie vermissen.
Ich danke Ihnen allen für die Bereitschaft, über den eigenen Verantwortungsbereich hinaus zu denken, für Ihre Ideen, Ihr Engagement und für die Bereitschaft, auch in kritischen Situationen und im Stress einander – und auch mich - auszuhalten.

Lieber Roland, dass der Bundestag Dich zu meinem Nachfolger gewählt hat, macht mir den Abschied leicht, auch wenn ein bisschen Wehmut dabei ist. Ich wünsche Dir Kraft und eine glückliche Hand und die Unterstützung, die Du von Seiten der Politik, von Deinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, und auch von Deinen Freunden brauchen wirst, um Dein neues Amt gut und zum Segen unseres Landes auszuüben.

Mach’ es gut!"

Es gilt das gesprochene Wort.

Die Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Roland Jahn, Marianne Birthler und Joachim Gauck
Rede von Staatsminister Bernd Neumann anlässlich der Amtsübergabe von Marianne Birthler an Roland Jahn