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Cover des Bundestagsgutachtens
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Bundestags-Gutachten veröffentlicht

Die Stasi und das Bonner Parlament

Im Oktober 2010 beauftragte der Präsident des Deutschen Bundestages die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU) ein Gutachten zu erstellen, das die Einflussnahme des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf die Mitglieder des Deutschen Bundestags in den Jahren 1949 bis 1989 dokumentiert. Erstmals ist mit dem Gutachten eine umfassende Dokumentation und grundlegende Forschungsarbeit zu dieser Thematik vorgelegt. Das Gutachten "Der Deutsche Bundestag 1949 bis 1989 in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR" finden Sie als Publikation in voller Länge zum Download auf unserer Seite.

Die Untersuchung zeigt den Umfang der Spionageaktivitäten des MfS auf Basis der relevanten Aktenbestände des Archivs des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen (BStU). Sie thematisiert dabei auch das Problem der Überlieferungslücken.

Das Gutachten stellt im Grundsatz fest, dass der Deutsche Bundestag in den vier Jahrzehnten der deutschen Teilung beständig ein herausragendes Ziel der DDR-Spionage war. Es analysiert die Wege und Methoden des MfS zur Informationsgewinnung aus dem Bundestag. Dies geschieht unter anderem anhand von Fallstudien zu Bundestagsausschüssen und zu Arbeitskreisen der Bundestagsfraktionen. Es zeigt, welche Informationen und Dokumente aus diesen Gremien an das MfS gelangten.

Informationsquellen

Das Gutachten fragt nach den Informationsquellen des MfS und nennt drei Bereiche:

  • Spionage durch Personen, zu denen die HV A (Hauptverwaltung A, die Auslandsspionageabteilung des MfS) eine IM-Akte führte. IM-Akten führte die HV A nicht nur bei bewusst tätigen Agenten, sondern mitunter auch bei "abgeschöpften" Kontaktpersonen.
  • Spionage durch systematische Telefonüberwachung.
  • Informationsgewinnung durch die Ständige Vertretung der DDR in Bonn. Hierbei handelt es sich um einen Grenzbereich zwischen diplomatischer und nachrichtendienstlicher Tätigkeit.

Hintergrundinformationen zum Bereich Spionage durch Personen

Zwischen 1949 und Ende 1989 gehörten 2.190 Politiker/innen dem Bundestag an. Für das Gutachten wurde für alle 2.190 Abgeordneten geprüft, ob und aus welchem Anlass sie in den Karteien des MfS erfasst waren. Durchgesehen wurde sowohl die zentrale MfS-Kartei als auch die "Rosenholz"-Kartei, also die verfilmten Namens- und Vorgangskarteikarten sowie Statistikbögen der HV A.

Von den 2.190 Bundestagsabgeordneten der Jahre 1949 bis 1989 identifiziert das Gutachten neun als bewusst tätige Mitarbeiter der DDR-Spionage. Zwischen 1949 und 1985 befand sich somit fast ununterbrochen zumindest ein Abgeordneter im Bundestag, der zugleich dem MfS zuarbeitete, oft waren es auch mehrere (S. 234 – 246 u.a.).

Die Karteikartenerfassungen und Archivüberlieferungen weiterer 11 Parlamentarier werden als „problematisch“ eingestuft: Es liegen zwar deutliche Hinweise auf einen Informationsfluss vom jeweiligen Abgeordneten zur HV A vor, dennoch bleiben mehr oder weniger große Zweifel an einer bewussten Tätigkeit zugunsten der DDR-Spionage.

Eine abschließende statistische Angabe, wie viele Bundestagsabgeordnete zwischen 1949 und 1989 als IM für das MfS tätig waren, ist daher nicht möglich. Die verbleibende Grauzone ist jedoch überschaubar und wird beschrieben. Eine "Stasi-Fraktion" hat es im Bundestag zu keinem Zeitpunkt gegeben (S. 225 - 234).

Tatsache ist, dass das MfS in allen vier Jahrzehnten der deutschen Teilung permanent Versuche unternahm, Bundestagsabgeordnete als IM zu gewinnen. Gemessen daran kam es in diesem Bereich selten zum Ziel. Häufiger gelang es dem MfS hingegen, Abgeordnete durch Personen aus ihrem Umfeld ausspionieren zu lassen. Mitarbeiter von Abgeordneten wie Sekretärinnen oder Referenten, aber auch Journalisten mit Kontakt zu den Parlamentariern, arbeiteten in weitaus größerer Anzahl für die HV A als die wenigen Abgeordneten mit HV-A-Anbindung. Auch qualitativ erwies sich das Umfeld der Abgeordneten bei der Spionage gegen den Bundestag und seine Mitglieder als sehr viel ergiebiger.

Cover des Bundestagsgutachtens

Weitere Themen des Gutachtens

Zu den weiteren Themen gehören: die Überwachung der Telefonanschlüsse von Abgeordneten durch das MfS; die Kontrolle von Bundestagsabgeordneten bei Reisen in die DDR, hierbei versuchte Kontaktaufnahmen sowie Einreiseverbote; Abgeordnete, die vor oder nach ihrer Mandatszeit in DDR-Gefängnissen einsaßen; Aktivitäten anderer sozialistischer Geheimdienste gegen den Deutschen Bundestag, sofern sich dies in den MfS-Unterlagen niederschlägt (siehe S. 280-317).

Das Gutachten regt an, die vorgelegten Erkenntnisse mit Forschungen über den bundesdeutschen Parlamentarismus und die innerdeutschen Beziehungen zusammenzuführen, um beispielsweise herauszufinden, inwieweit die MfS-Spionageerkenntnisse das Handeln der DDR-Politik beeinflussten und ihr Vorteile verschafften, oder welche Rolle und Funktion das MfS im innerdeutschen Gefüge genau innehatte.

Relevante Aktenbestände des BStU-Archivs für das Gutachten

Das Gutachten nutzt die im Hinblick auf Bundestagsbelange wichtigsten Aktenbestände im Archiv des BStU. Dazu gehören:

  • die elektronische Datenbank der HV A, die sog. SIRA-Datenbank (Angaben über Art, Inhalt und Umfang der beschafften Spionageinformationen)
  • die "Rosenholz"-Kartei (Namens- und Vorgangskartei sowie Statistikbögen der HV A zur Klärung von IM-Verdachtsfällen u.a.,
  • Bestände der MfS-Hauptabteilung III (Telefonüberwachung),
  • Bestände der MfS-Hauptabteilung VI (Reisen von Abgeordneten in die DDR),
  • Bestände der MfS-Abteilung IX/11 (Untersuchungen des MfS über die NS-Zeit, auch zu Zwecken politischer Instrumentalisierung),
  • Arbeiten der JHS („Juristische Hochschule“ des MfS, insbes. die dort eingereichten Promotionsschriften von MfS-Offizieren, die Einblicke in das theoretische/ideologische Grundgerüst des MfS geben und ihr (Un-)Verständnis für den Parlamentarismus veranschaulichen),
  • Unterlagen der HV A (überliefert sind insbes. die Berichte der HV A an die Partei- und Staatsführung in der DDR, in denen die HV A kontinuierlich ihre Spionageerkenntnisse übermittelte) u.a.