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Per Hand zerrissene Stasi-Unterlagen

Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen

In den 90er Jahren wurde begonnen, Unterlagen zu rekonstruieren, die von Mitarbeitern des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit per Hand zerrissenen worden waren. Insgesamt fand sich dieses Material in rund 16.000 Säcken. In der manuellen Rekonstruktion sind seither bislang etwa 1,7 Millionen Blätter aus gut 600 Säcken zusammengesetzt und ins Archiv sortiert worden. In einem Pilotprojekt wurden zudem in einer computergestützten Rekonstruktion etwa 91.000 Seiten aus 23 Säcken zusammengesetzt.

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Aktueller Stand

Wo steht die virtuelle Rekonstruktion?

Mit der Auflösung der Stasi-Unterlagen-Behörde im Juni 2021 wurde die Verantwortung für die MfS-Unterlagen dem Bundesarchiv übertragen. Gleichzeitig schrieb der Gesetzgeber erstmals die Rekonstruktion als gesetzliche Aufgabe des Bundesarchivs fest (§2, Absatz 2, Nr. 10 Stasi-Unterlagen-Gesetz). Während die manuelle Rekonstruktion fortgesetzt wird, stellte das Bundesarchiv die bisherigen Forschungsergebnisse der virtuellen, computergestützten Rekonstruktion aus der Zeit der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) auf den Prüfstand. Das Projekt ruhte zu diesem Zeitpunkt schon seit längerer Zeit. 2014 wurde das Scannen, 2016 das Puzzeln eingestellt.

Wurde versucht, die virtuelle Rekonstruktion fortzusetzen?

Es fanden Termine mit Vertretern des beauftragten Fraunhofer Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) und Abgeordneten des Deutschen Bundestages statt, um mögliche technische und vertragliche Lösungen auszuloten. Im Ergebnis hat das Bundesarchiv festgestellt, dass das 2007 begonnene Projekt so nicht weiter durchführbar ist. Das Beschaffungsamt wurde mit der Kündigung des Altvertrages beauftragt.

Wie geht es konkret weiter?

Es wird ein Anforderungskatalog erarbeitet, in den die nach heutigem Stand notwendigen technischen, qualitativen und quantitativen Anforderungen Eingang finden, damit das Projekt seinen Zweck effizient und sinnvoll erfüllen kann. Anhand der gebildeten Kriterien wird das Bundesarchiv eine Markterkundung vornehmen, mit der die Suche nach geeigneten Anbietern beginnen kann. Die Erkundung hat das Ziel festzustellen, ob und welche Anbieter es für ein Projekt dieser Art gibt. Interessenten legen dann üblicherweise Skizzen vor, in denen dargestellt ist, wie sie sich die Umsetzung vorstellen und wie der finanzielle Aufwand grob kalkuliert wird.

Läuft die manuelle Rekonstruktion parallel weiter?

Die manuelle Rekonstruktion wird wie bisher fortgesetzt. Damit trägt das Bundesarchiv Sorge, den gesetzlichen Auftrag weiter zu erfüllen. Ein gesondertes Sachgebiet kümmert sich um die sogenannte Feinsichtung der Behältnisse mit zerrissenen Unterlagen und die Rekonstruktion von Unterlagen, deren Einzelteile groß genug sind, um per Hand zusammengesetzt und am Ende als Dokumente ins Archiv überführt zu werden.

Technische Details zur computergestützten Rekonstruktion

Was funktionierte am computergestützten Verfahren nicht?

Das Pilotprojekt führte zu keinem geeigneten technischen Verfahren, welches das Zusammensetzen der rund 15.500 vorhandenen Säcke mit "Schnipseln" in einem abschätzbaren Zeitraum zu wirtschaftlich vertretbaren Kosten ermöglicht hätte. Im Herbst 2013 konnte das Fraunhofer IPK zwar nachweisen, dass die von seinen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelte Software, der sogenannte e-Puzzler, prinzipiell funktioniert. Das Verfahren erwies sich allerdings nicht als massentauglich. Insgesamt hat das Projekt zu keiner Zeit die vorgesehene automatisierte Rekonstruktionsquote von mindestens 80 Prozent erreicht.

Lässt sich das Zusammensetzen in anderen Projekten auf zerrissene Stasi-Unterlagen übertragen?

Nicht ohne Weiteres. Die Deutsche Bundesbank etwa lässt zerstörte Geldscheine zusammensetzen, bei denen es ein Ausgangspapier mit identischem Muster und eine klare Orientierung an einer einheitlichen Vorlage gibt, die bei völlig unterschiedlichen Stasi-Papieren fehlt. Bei vielen der anderen Projekte handelt es sich um wesentlich kleinere Materialmengen, so beispielsweise bei der Rekonstruktion des Nachlasses von Gottfried Wilhelm Leibniz. Im Februar 2022 besichtigten Vertreter der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und des Bundesarchivs das im Historischen Archiv der Stadt Köln eingesetzte Rekonstruktionssystem. Die dortigen Erfahrungen mit der aktuellen Scantechnik sowie die Kenntnis über den dortigen Prozess der Rekonstruktion standen im Fokus. Auch hier war nur eine bedingte Vergleichbarkeit gegeben, zumal es bei den Stasi-Unterlagen um ein Massenverfahren in einem stabilen Betrieb geht.

Warum dauerte das Entwickeln des Verfahrens so lange?

Das Verfahren zur virtuellen Rekonstruktion hat kein Vorbild und ist weltweit einzigartig. Es handelt sich um ein Forschungsprojekt, bei dem eine Technologie von Grund auf neu entwickelt wird. Der Prozess wurde immer wieder durch neue Erkenntnisse unterbrochen und entsprechend neu ausgerichtet. Das verschob Zeit- und Finanzierungsplanungen. Der Bundesrechnungshof hatte zur Weiterentwicklung des Projektes in seinem 2015 begonnenen und in 2017 abgeschlossenen Prüfverfahren hilfreiche Impulse gegeben. Eine im Jahr 2018 vorgelegte Projektskizze des Fraunhofer IPK für ein angepasstes Verfahren wurde intensiv begutachtet und geprüft. Es folgten Gespräche zur Beendigung des alten und Auflage eines neuen Vertrages.

Was hat das Pilotprojekt bislang gekostet?

Aufgrund der vertraglichen Verpflichtungen wurden seit Projektbeginn im Jahr 2007 rund 6,5 Millionen Euro aus den vom Deutschen Bundestag zur Verfügung gestellten Haushaltsmitteln an das Fraunhofer IPK bzw. die Fraunhofer Gesellschaft bezahlt.

Ursprung der Rekonstruktion

Warum gibt es zerrissene Stasi-Unterlagen?

Während der Friedlichen Revolution 1989/90 wurden zahlreiche Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) von den Mitarbeitern vernichtet. Sie folgten Vernichtungsbefehlen, die Spuren unrechtmäßigen Handelns und Personenidentitäten verwischen wollten, aber sie ließen auch Alltagsdokumentation des Ministeriums verschwinden. Unterlagen wurden zerschreddert, mit Wasser versetzt oder verbrannt. Viele Dokumente wurden zur weiteren Vernichtung vorab per Hand zerrissen und in Säcke gestopft. Mit der Besetzung der Stasi-Diensträume stoppten Bürgerinnen und Bürger ab Anfang Dezember 1989 die Vernichtung von Material schrittweise.

Wie viel Material wurde vernichtet?

Nach der befohlenen und von der Stasi selbst vollzogenen Zerstörung von Material im Herbst 1989 gab es in der ersten Hälfte des Jahres 1990 weitere Vernichtungen von Stasi-Unterlagen. Diesen wurde durch die politischen Gremien in der DDR (Runder Tisch und Übergangsregierung) nicht ohne Widerstand und Druck zugestimmt. Dazu gehören bspw. die Vernichtung der Akten der HV A, der Auslandsspionage des MfS, oder der Militärspionage bei der NVA, deren frühe Dokumente im Stasi-Archiv lagerten. Die Vernichtung von Karteibeständen der HA VI über Ein- und Ausreisen in die DDR hingegen entsprach allseits akzeptieren Datenschutzregelungen. Die genaue Größenordnung des vernichteten Materials durch die Stasi 1989/90 lässt sich bislang nicht seriös berechnen. Ein Forschungsprojekt beim BStU hat zuletzt 2020 alle vorhandenen Quellen untersucht, um eine bessere Einschätzung zu ermöglichen. Das Resultat ist hier zu finden.

Wie groß ist die Menge an von Hand zerrissenem Material?

Die Stasi hinterließ von Hand zerrissenes, aber noch verwertbares Material in einer Größenordnung von über 16.000 Säcken. In jedem Sack liegen in etwa zwischen 2.500 bis 3.500 zerrissene Blätter in Schnipseln. Grob geschätzt gibt es noch ca. 400 bis 600 Millionen Schnipsel, die etwa 40 bis 55 Millionen Blätter ausmachen.

Konnte zerschreddertes Papier rekonstruiert werden?

Nein. In einigen weiteren Tausend Säcken befand sich 1990 auch enorm klein zerschreddertes Papier aus dem Reißwolf. Dieses Material wurde bereits 1991 nach Sichtung durch den BStU vernichtet. Es gibt daher kein von der Stasi zerschreddertes Papier mehr beim Stasi-Unterlagen-Archiv.

Verfahren der Rekonstruktion

Weiß man, welche Inhalte in den Säcken liegen?

In einer ersten Inventur wurden die Säcke 1991/92 erfasst und gesichtet, das Ergebnis der Erfassung in Berlin ist im ersten Tätigkeitsbericht nachzulesen. Seit 2008 werden alle Säcke sukzessive feingesichtet, das heißt, zunächst nach formalen Kriterien (Registriernummern, Aktenzeichen oder Paginierungen) betrachtet. Zudem werden sie auf inhaltliche Relevanz (Themen oder Hinweise auf Personen) geprüft und der Grad der Zerstörung dokumentiert. Rund 7.700 Säcke konnten bislang so feingesichtet werden. Die Erkenntnisse dienen der weiteren Auswahl von Säcken zur Rekonstruktion.

Wie werden Säcke für die Rekonstruktion ausgewählt?

Für die manuelle Rekonstruktion ist in erster Linie der Grad der Zerstörung entscheidend. Hauptsächlich einfach oder zweifach zerrissene Seiten eignen sich für die manuelle Rekonstruktion. In zweiter Linie gelten dann die Kriterien, die auch für die Auswahl der Säcke für das Pilotprojekt zur virtuellen Rekonstruktion zugrunde gelegt wurden. Die Kriterien sind:

  1. Bedeutung der Diensteinheit. Für die Aufarbeitung des Wirkens des MfS mit Bezug zu Opfern sind die Diensteinheiten des "operativen Bereichs", also der Verfolgung, Beobachtung und "Zersetzung" von Personen und Institutionen besonders relevant.
  2. Das Lückenschluss-Prinzip, also die Berücksichtigung von zerrissenem Material aus Diensteinheiten, von denen wenig intaktes Schriftgut überliefert ist.
  3. Regionalgeschichte des MfS. Weil mehr als die Hälfte aller zerrissenen Unterlagen aus den ehemaligen Bezirksverwaltungen des MfS stammen, sollen regionale Themen entsprechend berücksichtigt werden.

Wie läuft die manuelle Rekonstruktion ab?

Die zerrissenen Unterlagen werden im Prozess wie ein großes Puzzle ausgebreitet, kombiniert und, sobald passend, fachgerecht zusammengeklebt. Die wiederhergestellten Seiten werden anschließend von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Stasi-Unterlagen-Archivs erschlossen und ins Archiv sortiert.

Inhalte der zusammengesetzten Unterlagen

Was steht in den Dokumenten?

Das Material stammt aus allen vier Jahrzehnten der DDR. Eine Vielzahl von Unterlagen war bereits für die persönliche Schicksalsklärung und Rehabilitierung von Bürgerinnen und Bürgern hilfreich. In der manuellen Rekonstruktion konnten zum Beispiel Dokumente der Bespitzelung und Verfolgung prominenter DDR-Oppositioneller wie Jürgen Fuchs oder Robert Havemann und des regimekritischen Schriftstellers Stefan Heym wiederhergestellt werden. Auch die Zusammenarbeit verschiedener inoffizieller Mitarbeiter (IM) mit dem MfS wurde durch rekonstruierte Akten belegbar. Einblicke in die Dopingpraxis des DDR-Sportes oder die Grenzabsicherung 1961 wurden möglich. Zu den prominenteren Funden gehören die rekonstruierten Unterlagen zur in der DDR untergetauchten RAF-Terroristin Silke Maier-Witt.

Bei den virtuell rekonstruierten Seiten wurden bislang viele Inhalte aus den späten 80er Jahren zusammengesetzt. In den Dokumenten finden sich Pläne des MfS für den Verteidigungsfall, ein Untersuchungsvorgang zu einem Nazi-Kriegsverbrecher oder die Ausspähung der Friedensbewegungen in Ost und West. Dazu gehört auch eine umfangreiche Akte des Zuträgers IM "Schäfer", der in den 80er Jahren unter Oppositionellen aktiv war.