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Die Drittklässler krochen unterhalb des Stacheldrahtes hindurch. Auf den Bildern ist die "Durchbruchstelle" genau festgehalten. Die Ortschaft Sattelgrund lag bereits in der Bundesrepublik.

Rodelpartie in den Westen

Am Abend des 19. März 1969 meldete sich ein sichtlich aufgelöster Familienvater in der Kompanie der Grenztruppen in Neuenbau im damaligen DDR-Bezirk Suhl. Er schilderte, dass seine Verwandtschaft aus dem oberfränkischen Tettau angerufen und ihm mitgeteilt hatte, dass sein Sohn und ein weiterer Drittklässler am Nachmittag die innerdeutsche Grenze überschritten hätten.

Die Schüler wären nun in der Obhut der Verwandtschaft. Es wurde vereinbart, die Kinder am folgenden Tag über den nicht weit entfernten Grenzbahnhof Probstzella in die DDR zurückzuschicken.

Wegen der guten Schneelage verabredeten sich die beiden Schüler zum Rodeln. Auch das MfS schätzte das Gelände diesbezüglich als günstig ein.

Das Sachgebiet "Grenzsicherung" der MfS-Kreisdienststelle Sonneberg, das zusammen mit den Grenztruppen und der Sonneberger Kriminalpolizei die Untersuchung des Falles übernahm, erarbeitete folgende Sachverhalte: Die beiden Schüler lebten mit ihren Familien im unmittelbaren Grenzgebiet zu Bayern. Die Kinder besuchten die dritte Klasse der Polytechnischen Oberschule (POS) in Judenbach. Am 19. März 1969 bestiegen beide gegen 13.45 Uhr den Schulbus nach Neuenbau. Da es ergiebig geschneit hatte, trafen sie sich etwa eine Stunde später zum Rodeln. Sie nutzten dabei den hier sechs Meter breiten Kontrollstreifen und näherten sich unbewusst der in Oberfranken gelegenen Ortschaft Sattelbach.

Einer der Jungen hatte hier einen Onkel. Dann machte einer den Vorschlag, man könne diesen doch besuchen. Ein MfS-Offizier hielt später fest: "Da Beiden bekannt war, dass sich zwischen der Sperre auf zwei Pfählen Minen befinden, suchte man Steine, die X nahm und diese in die kombinierte Sperre warf." Glücklicherweise blieb an jenem Winternachmittag eine Detonation aus. Zudem nahmen die Jungen an, dass die Minen wegen des Frosts nicht auslösen würden. Sodann zog einer der Jungen den Stacheldraht hoch und der andere kroch darunter hindurch.

Akribisch wurde der "Grenzdurchbruch" rekonstruiert und Spuren sichergestellt. Mit Strichelchen markierte die Stasi den Rodelverlauf.

"durch westliche Grenzsicherungskräfte beobachtet"

Mittlerweile hatten sich bundesdeutsche Sicherheitsbehörden eingefunden, die die beiden beobachteten. Einer der Jungen gab später zu Protokoll: "Es hat ein Auto angehalten, und es sind drei Männer ausgestiegen. Dabei haben wir gesehen, dass es Grenzer von Drüben waren. Der Eine hat uns bestimmt gesehen, denn er hat immer zu mit dem Fernglas beobachtet. Ein Anderer hat uns dann zugerufen, wie wir laufen und dass wir langsam gehen sollten."

Die "Grenzer von Drüben" brachten die beiden anschließend in eine Gaststätte, in der es erst einmal belegte Brötchen und warmen Kakao gab. Sofort wurde die Verwandtschaft in Tettau informiert, die die Jungen in Obhut nahm. Am folgenden Tag wurden die Schüler in eine "Dienststelle" gebracht und befragt. Die Beamten interessierten sich für die Grenzkompanie in Neuenbau und die Annäherung der beiden an die Grenze. Später wurden die beiden Neunjährigen, gegen 14.00 Uhr, den Grenztruppen in Probstzella übergeben.

Die Drittklässler krochen unterhalb des Stacheldrahtes hindurch. Auf den Bildern ist die "Durchbruchstelle" genau festgehalten. Die Ortschaft Sattelgrund lag bereits in der Bundesrepublik.

Zum besagten Zeitpunkt keine Grenzer vor Ort

Bei der durch das MfS geleiteten Untersuchung des "Grenzdurchbruchs" kam heraus, dass die Familie eines Jungen bereits aus dem unmittelbaren Grenzgebiet ausgesiedelt werden sollte. Ferner war der Bruder der Mutter "republikflüchtig" und es bestanden weiterhin Kontakte zwischen beiden. Auch würde im Elternhaus der Schüler häufig "Westfernsehen" geschaut und die hierdurch dargestellte bundesdeutsche Konsumwelt habe die Jungen zur "Flucht" veranlasst.

Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der MfS-Kreisdienststelle Sonneberg brachten in Erfahrung, dass auch andere Kinder im unmittelbaren Grenzgebiet rodelten, ohne dass die Grenztruppen oder der Abschnittbevollmächtigte (ABV) der Volkspolizei einschritten. Weiterhin sei unter den Kindern und Jugendlichen der Region die Annahme weit verbreitet, dass "erst ab 14 Jahren mit Erhalt des DPA" das Betreten des Schutzstreifens strafbar sei.

Eine detaillierte Karte des MfS skizziert den "Grenzdurchbruch" zwischen dem thüringischen Neuenbau (damaliger DDR-Bezirk Suhl) und dem bayrischen Sattelgrund (Regierungsbezirk Oberfranken)

Eingeleitete Maßnahmen und IM-Einsatz

Nachdem die Jungen ihren Familien übergeben worden waren, sprachen MfS-Offiziere und Kriminalpolizisten mit den beiden Vätern. Die Eltern sollten "nützliche" Hinweise für die Erziehung ihrer Kinder erhalten. An die Grenztruppen und den zuständigen ABV ergingen in der Folge klare Befehle, dass Kinder und Jugendliche das unmittelbare Grenzgebiet unter keinen Umständen betreten dürften.

Zugleich wurde der Vorfall in der Gemeinde sowie an der POS der Jungen thematisiert und den Schülern dadurch "… die Gefährlichkeit eines Grenzdurchbruches vor Auge geführt." IM sollten über die Reaktionen auf den Grenzdurchbruch der Jungen sowie über die eingeleiteten Maßnahmen der "staatlichen Organe" berichten. Die Familien der beiden Jungen standen in den folgenden Jahren unter Beobachtung des MfS.