Direkt zum Seiteninhalt springen
 Eine Menschenmenge steht in unwegsamem Gelände und hört dem CDU-Politiker Alfred Dregger zu, der vor ihnen steht und etwas erklärt.

Blick in den Osten

Am 18. Juni 1966 weihte der Landrat des Landkreises Königshofen im Grabfeld feierlich die Grenzinformationsstelle Breitensee ein. Sie war die erste ihrer Art in der Bundesrepublik und lag in der unterfränkischen Provinz nur etwa 500 Meter von der innerdeutschen Grenze entfernt. Rasch erregte das dortige Geschehen die Aufmerksamkeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).

Zum Inhalt springen

In den Stasi-Unterlagen ist festgehalten, dass am 27. Juli 1967 der Geheime Mitarbeiter (GM) "Georg Kelmer" einen konkreten Auftrag erhielt: "An einem Wochenende hat er die Informationsstelle in der Ortschaft Breitensee Kr[eis] Königshofen aufzusuchen. Dabei hat er Folgendes über das Objekt festzustellen: Lage des Objekts; welche Personen sind für das Objekt verantwortlich; wer führt die Einweisungen durch; gibt es festgelegte Öffnungszeiten; mit welchen Materialien und Fotos ist die Informationsstelle ausgestaltet; werden Prospekte verteilt, wenn ja, Erwerb eines solchen."

Aufklärung im Schatten des Todesstreifens

Bis zur deutschen Wiedervereinigung lagen die Grenzinformationsstellen, wie an einer Perlenschnur aufgereiht, entlang der innerdeutschen Grenze. In den Zonenrandgebieten Bayerns, Hessens, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins sowie in Westberlin informierten sich dort jedes Jahr Zehntausende Menschen über das DDR-Grenzregime. In der Folge entwickelte sich der bundesdeutsche Grenztourismus zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für die strukturschwachen Regionen im Zonenrandgebiet. Die Grenzinformationsstellen boten Text- und Bildtafeln, Informationsbroschüren und Schaumodelle, die den Aufbau der Grenzanlagen verdeutlichten. Außerdem thematisierten regelmäßig stattfindende Filmvorführungen, Lesungen und Vorträge die historischen Entwicklungen, die zur deutschen Teilung führten. Weiterhin beschäftigten sich diese mit den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der DDR. Als besonderer Programmpunkt galten die Fahrten und Wanderungen an die innerdeutsche Grenze, die mit erklärenden Einweisungen in den Grenzaufbau einhergingen. Eine Vielzahl an Aussichtsplattformen, Einsichtspunkten und Beobachtungstürmen bot für die Teilnehmer die Möglichkeit, einen Blick in den Osten zu werfen.

MfS und Grenztruppen beäugten diese Szenerien argwöhnisch, und die Dienstkameras klickten unermüdlich, wenn sich Besucherdelegationen, Schulklassen, Touristengruppen und Wandergesellschaften bis auf wenige Meter dem Territorium der DDR näherten. Im Rahmen der Einweisungen kam es regelmäßig zu Zwischenfällen. Die MfS-Kreisdienststelle (KD) Hildburghausen listete einige für die erste Hälfte der 1980er Jahre auf: Zerstörung von Grenzmarkierungen; Diebstahl von DDR-Hoheitsabzeichen; Grenzüberschreitungen, bei denen Bundesbürger und auch Bundespolitiker (bewusst oder unbewusst) DDR-Territorium betraten; direkte Aufforderungen der Grenzsoldaten zur Fahnenflucht. Ein weiteres Ärgernis für das MfS waren Ballonaktionen. Hierbei ließen Bundesbürger Luftballons mit politischen Grußbotschaften in Grenznähe steigen. Diese flogen, vom Ostwind getragen in die DDR, wo sie unkontrolliert niedergingen.

Zwei auf eine Seite geklebte Schwarzweiß-Fotos. Auf dem oberen Foto ist der Hauseingang mit fünf Fenstern und einerm kleinen Eingangsbogen zu erkennen. Das untere Bild zeigt das Haus aus etwa 20 Metern Entfernung.

Von Lübeck nahe der Ostsee bis Hof in Oberfranken befanden sich die Grenzinformationsstellen in Rathäusern und Verwaltungsgebäuden der Gemeinden, Städte und Landkreise, in Museen, in kirchlichen und privaten Räumlichkeiten, oder sie waren innerhalb der Standorte des Bundesgrenzschutzes (BGS), der Bayerischen Grenzpolizei (BGP) und des Grenzzolldienstes (GZD) untergebracht. Als Leiter, in der Regel Ehrenamtliche, fungierten oftmals pensionierte und aktive Bürgermeister, Lehrer sowie Regional- oder Lokalpolitiker. Angehörige des BGS, der BGP und des GZD führten häufig die Einweisungen an der innerdeutschen Grenz durch.

Das "Gesamtdeutsche Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben" koordinierte die Arbeit der Grenzinformationsstellen. Konkret stellten deren in Bonn und Westberlin ansässigen Dienststellen Druckerzeugnisse, Filme, Tonträger und Referenten im Rahmen der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit zur Verfügung. Zudem förderte es mittels eines Bundeszuschusses Reisen in das Zonenrandgebiet und in die DDR. Das Gesamtdeutsche Institut prüfte auch den Aufbau neuer Grenzinformationsstellen und sorgte für deren touristische Erschließung. Dazu gehörte es, Straßen und Wege anzulegen sowie Hinweisschilder und Aussichtsplattformen aufzustellen.

Auch die Bundesländer mit Zonenrandgebiet traten in vielfältiger Weise, vor allem hinsichtlich des Anfertigens eigener thematischer Publikationen, in Erscheinung: Der "Hessendienst der Staatskanzlei" veröffentlichte 1989 die Broschüre "Die Hessische Grenze zur DDR". Nach einem Vorwort des hessischen Ministerpräsidenten Walter Wallmann folgten Verhaltensregeln für Reisen ins Grenzgebiet und in die DDR. Ergänzend lagen der Broschüre eine Übersicht zu den bedeutendsten Städten der DDR und eine praktische Faltkarte bei. Diese veranschaulichte den Grenzverlauf in Hessen und lieferte Angaben zu den Standorten hessischer Grenzinformationsstellen und den Aussichtspunkten. An der bayerischen Landesgrenze zur DDR befanden sich die Grenzinformationsstellen Fladungen, Rappershausen, Breitensee, Bad Königshofen, Dürrenried, Neustadt, Kronach, Lauenstein, Lichtenberg und Töpen. Unter dem Titel "Hinweise für Fahrten an die Demarkationslinie" ist in den Stasi-Unterlagen ein Merkblatt überliefert, welches mutmaßlich das gesamtdeutsche Referat des Bayerischen Staatsministers für Bundesangelegenheiten verantwortete. Das Merkblatt lieferte praktische Tipps für die Beantragung des Bundeszuschusses für Reisen an die innerdeutsche Grenze und in die DDR. Zusätzlich fand sich darin eine detaillierte Übersicht zu Grenzinformationsstellen und Aussichtspunkten im Norden Bayerns.

 

Eine Menschenmenge steht in unwegsamem Gelände und hört dem CDU-Politiker Alfred Dregger zu, der vor ihnen steht und etwas erklärt.

"Emotionale Schockerlebnisse"

Die Grenzinformationsstellen waren den Ostberliner Machthabern ein Dorn im Auge, da diese die staatliche Integrität der DDR in Frage stellten. Die SED übertrug ihrer Geheimpolizei die Aufgabe, möglichst viele Belege für den vermeintlich konterrevolutionären Charakter zu sammeln und die Arbeit zu behindern. Das Stasi-Unterlagen-Archiv bewahrt eine Studienarbeit auf, die ein Offiziersschüler an der Juristischen Hochschule des MfS im Sommer 1989 einreichte. Unter dem Titel "Zur Struktur und aktuell-politischen Aufgaben der Grenzinformationsstellen des Bundesgrenzschutzes" formulierte der angehende Geheimpolizist die konkreten Vorwürfe an der Arbeit der Grenzinformationsstellen.

Zunächst trug er einführend Details zusammen, wie Angaben zu deren Aufgaben, zur Finanzierung und zu den Zielgruppen. In einem nächsten Schritt argumentierte der Autor, der der Hauptabteilung I (HA I) des MfS angehörte, dass die thematische Wissensvermittlung in den Grenzinformationsstellen der DDR ihr souveränes Recht abspreche, die eigene Grenze zu schützen. Den Besuchern würde mittels "emotionaler Schockerlebnisse" ein Feindbild kommuniziert, das die Grenztruppen als schießwütige, roboterartige Befehlsempfänger darstellt. Zusätzlich würden Menschen in den Einrichtungen, unter dem Motto "Die Grenze ist nicht unüberwindbar", dazu ermutigt, deutsch-deutsche Kontakte aufzubauen und Reisen in die DDR zu unternehmen. Die 24-seitige Abhandlung schließt mit einer nach Bundesländern sortierten Aufzählung zahlreicher Grenzinformationsstellen.

Der Diensteinheit des angehenden Offiziers, der HA I, kam bei der geheimpolizeilichen Bearbeitung der Grenzinformationsstellen eine Schlüsselposition zu. Die HA I war verantwortlich für die NVA und die Grenztruppen sowie für die "Aufklärung des westlichen Grenzvorfeldes". Deren Mitarbeiter, die sich ihrem Selbstverständnis nach auch als "Militärtschekisten" bezeichneten, erstellten eine Übersicht aller Grenzinformationsstellen und hielten diese bis 1989 aktuell. Dokumentiert sind zu jedem Objekt Anschrift, Lage, Ausstattung, Personal, bauliche Beschaffenheit, einmalige oder wiederkehrende Aktivitäten sowie Qualität der Zusammenarbeit mit BGS, BGP und GZD.

Zudem ist in der Dokumentation festgehalten, welche Aussichtsplattformen, Einsichtspunkte und Beobachtungstürme die jeweilige Grenzinformationsstelle bevorzugt nutzte. Fotokopierte Postkarten, Fotografien und Zeitungsartikel ergänzten die spezifischen Abschnitte. Nach Absprache und in ständiger Koordination mit der HA I wurde jeder MfS-Bezirksverwaltung, die an einen Abschnitt der innerdeutschen Grenze lag, mehrere Grenzinformationsstellen zur Kontrolle und Überwachung, häufig im Rahmen eines Feindobjektvorgangs, zugewiesen. Auch die "Arbeitsgruppe Grenze" der Hauptverwaltung A (HV A; Auslandsspionage) und die HA VI (Grenzkontrolle, Reiseverkehr, Touristik) waren bei der verdeckten Arbeit gegen die Grenzinformationsstellen involviert.

Blick in das Thüringer Land

Im Juli 1984 legte die Arbeitsgruppe Grenzsicherheit der KD Hildburghausen die Feindobjektakte "Thüringenblick" an. In dem Vorgang finden sich die Grenzinformationsstellen Breitensee und Dürrenried sowie die Aussichtstürme "Bayernturm" bei Sternberg/Zimmerau und die "Henneberger Warte" bei Bad Rodach wieder. Für das MfS stand fest, dass die vier Einrichtungen "im Auftrag der bayerischen Staatsregierung der Verbreitung revanchistischen Gedankengutes [dienen] und [deren Aktivitäten gegen] die Souveränität der DDR, ihrer Staatsgrenze und das Grenzgebiet gerichtet" sind. In der Akte wird ersichtlich, dass es dem MfS darum ging, vermutete feindliche Handlungen aufzuklären und Kontakte in die DDR zu dokumentieren. Konkret finden sich Kontrollmaßnahmen und Ermittlungen zu den Leitern der beiden Grenzinformationsstellen, zu Personen, die am "Bayernturm" und der "Henneberger Warte" den Besuchern Hinweise bei der Beobachtung gaben und zu Inhabern von Hotels, kleinen Verkaufsständen und Gaststätten. Der verantwortliche Mitarbeiter in der KD Hildburghausen versprach sich davon, operative Anhaltspunkte zu finden, um das Engagement der betreffenden Personen einschränken oder beenden zu können.

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

Der im Sommer 1966 eröffnete "Bayernturm" besaß eine besondere Strahlkraft. Als "Mahnmal für die deutsche Einheit" bezeichnet, sollte er den Besuchern Unterfrankens einen "Blick in das Thüringer Land" gewähren. Die mit Wellblech verkleidete Stahlkonstruktion lag unmittelbar an der innerdeutschen Grenze auf dem mehr als 400 Meter hohen Büchelberg. Bereits der Bau wurde aus dem Osten registriert und so mancher Anwohner des DDR-Grenzgebietes mutmaßte, dort würde eine Raketenabschussrampe entstehen. Einige Monate nach der Inbetriebnahme berichtete ein eifriger IM, dass jeder Besucher "dieses revanchistischen Turmes" ein Eintrittsgeld in Höhe von 1,50 DM entrichten müsse. Eine eiserne Treppe führte zur markanten, achteckigen Aussichtsplattform. Hier standen zwei große Reliefmodelle, die den Grenzverlauf und das gegenüberliegende DDR-Gebiet abbildeten. Der IM berichtete weiter, dass eines dieser Modelle "mit einer Reihe farbiger Knöpfe versehen [war], die einen elektronischen Anschluss besitzen. Drückt man einen bestimmten Knopf, so leuchtet auf dem Relief eine bestimmte Lampe auf. Beim Drücken der einzelnen Knöpfe ist Folgendes auf dem Relief festzustellen: gelber Knopf: alle gegenüberliegenden Kasernen der NVA-Grenze, grauer Knopf: Ausbildungsgelände der NVA Grenze, schwarzer Knopf: Beobachtungstürme innerhalb der Grenzsicherungsanlagen unserer Grenztruppen."

 

Blick auf ein ländliches Dorf von oben. Neben vielen kleineren Wohnhäusern und Wäldern ist am rechten Bildrand ein hoher Turm moderner Bauweise zu erkennen. Dabei handelt es sich um den Bayernturm in Unterfranken.

Im Jahr 1987 stufte die KD Hildburghausen auch die "Henneberger Warte" auf dem Georgenberg bei Bad Rodach als Feindobjekt ein. Der im Mai 1987 fertiggestellte Aussichtsturm entwickelte sich bis zur deutschen Wiedervereinigung zu einem beliebten Ziel des Grenztourismus. Ein im Westen aktiver IM fiel an der "Henneberger Warte" ein Mann auf, der den Besuchern Hinweise gab und sich für die jenseits der Grenze liegenden militärischen Objekte, unter anderem die sowjetische Radaranlage auf dem Stadtberg bei Hildburghausen, interessierte. Der IM vermerkte: Die Person "versucht in Erfahrung zu bringen, welche Anlagen dort errichtet sind. Analoge Erkundungen zog [anonymisiert] zum Großen Gleichberg ein. [Anonymisiert] wollte von Bürgern, die sich dort aufhielten, wissen, was dort errichtet wurde, weil nach seinen Feststellungen nachts stets ein rotes Licht festzustellen sei. Zu beiden Fragestellungen war die Quelle nicht in der Lage eine Auskunft zu erteilen. Mittels Fernglas konnte die Quelle persönlich feststellen, dass die Radaranlagen auf dem Stadtberg relativ gut einsehbar sind." Wie die Informationen an die sowjetischen Verbündeten weitergeleitet wurden und ob diese in der Folge an ihren Standorten am Großen Gleichberg und am Stadtberg bei Hildburghausen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, geht aus den Stasi-Unterlagen nicht hervor.

Zwei kleine Schwarzweiß-Fotos auf einem Zettel geklebt. Zu sehen sind auf beiden Fotos bergige Landschaften. Über dem ersten Foto steht das Wort "Normalaufnahme", auf dem zweiten "Teleobjektivaufnahme".

Der Geheimpolizei gelang es zu keinem Zeitpunkt inoffizielle Zuträger aus dem Umfeld der Grenzinformationsstellen, Hotels, Gaststätten, Aussichtstürme und Bildungseinrichtungen zu werben. Gleichwohl inoffizielle Zuträger, die das MfS häufig unter DDR-Rentnern rekrutierte, Informationen zusammentrugen und die vorgangsbearbeitenden Offiziere meterweise Prospekte, Zeitungen, Fahrpläne, Festschriften, Branchenbücher und Fotografien auswerteten, blieb die Perspektive des MfS stets auf die des Beobachters und des Dokumentars beschränkt.

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen


Die wenigen Versuche, die Aktivitäten der Institutionen in irgendeiner Art und Weise zu behindern, schlugen allesamt fehl. Ziemlich ernüchtert verfügte der Offizier der KD Hildburghausen im Februar 1989 den Vorgang "Thüringenblick" ins Archiv ab. Er resümierte, dass von den vier Objekten keine Hinweise auf eine direkte feindliche Tätigkeit gegenüber der DDR ausgingen.

Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung 1989/90 verloren die Grenzinformationsstellen ihre bildungspolitische Daseinsberechtigung. Auch das Wirken des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen und das ihm unterstehende Gesamtdeutsche Institut wurde mit dem Hissen der Bundesflagge auf dem Berliner Reichstag in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 gegenstandslos; die Behörde 1991 aufgelöst. Privaten Initiativen und lokalen Bündnissen ist es zu verdanken, dass zahlreiche Grenzinformationsstellen ihren Weg in das vereinte Deutschland fanden.

Der ausführliche Beitrag findet sich unter:
Sascha Münzel: "Emotionale Schockerlebnisse". Einstige Grenzinformationsstellen im Blickfeld der Stasi. In: Deutschland Archiv. www.bpb.de/337937. (veröffentlicht am 09. August 2021).