Direkt zum Seiteninhalt springen

"Es ist wichtig, dass wir berichten"

Ulli Wagner: Die Montagsdemonstrationen waren ein bedeutender Bestandteil der friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989. Es waren Massendemonstrationen, die ab dem 4. September 1989 zunächst in Leipzig und dann auch in anderen Städten der DDR stattfanden. Mit dem Ruf "Wir sind das Volk!" meldeten sich Woche für Woche Hunderttausende DDR-Bürger im ganzen Land zu Wort und protestierten gegen die politischen Verhältnisse. Ziel war eine friedliche, demokratische Neuordnung.
Was mir daran so besonders gut gefällt ist, dass es aufzeigt, was Freiheit ist. Das ist ja ganz verschieden. Dem, einen ist es wichtig, dass er sagen kann, für mich bist du gaga. Dem anderen ist es wichtig, dass er reisen kann wohin er will. Dem Dritten, der Dritten, ist es wichtig, dass sie werden kann, was sie will. Also unterschiedliche Formen von Freiheit in unterschiedlicher Bedeutung und alles zusammen macht ja unsere Gesellschaft aus.
Roland Jahn ist einer, der in einer Gesellschaft aufgewachsen und großgeworden ist, von der wir sagen, sie war nicht frei. Viele, die da leben, wo Roland Jahn herkommt, er ist Thüringer, geborener Jenaer, die sagen, wir sind heute noch nicht frei. Wir wollten die Freiheit und haben Gender-Mainstreaming bekommen. Wir wollten die Freiheit und haben Multikulti bekommen. Stichwort "Wende 2.0", Stichwort "Vollendet die Wende".
Wie ist das für einen, der daran gearbeitet hat, Freiheit zu kriegen? Kommen Sie mit uns, wir machen ein kleines Interview. So hätten Sie es am liebsten, haben wir uns sagen lassen.

Roland Jahn: Ich bin Journalist, ich will hinterfragt werden. Deswegen ist das Gespräch immer das Beste. Ja, das sind natürlich auch aktuelle Entwicklungen in meiner Heimat Thüringen, wo man schon ein bisschen erschrocken ist, dass da plötzlich Plakate auftauchen im Wahlkampf wo draufsteht "Wende 2.0" oder in Diskussionen oder Umfragen, die gemacht werden, von wegen "die Willkür dieses Staates, der Bundesrepublik Deutschland, ist ja genauso wie damals". Beziehungsweise es wird gesagt, es gäbe keine Meinungsfreiheit.

Wagner: Ja, man dürfe die Meinung nicht mehr sagen. Noch nicht mal zu Hause.

Jahn: Das sind natürlich Punkte, wo ich klar und deutlich sage, das ist eine Verhöhnung der Opfer der SED-Diktatur. Und das, denke ich, ist aber wichtig, dass man sozusagen genauer das alles diskutiert. Und ich sage, alleine, dass diese Behauptung aufgestellt werden kann, ist schon ein Ausdruck für die Meinungsfreiheit. Alleine das ist ein Ausdruck. Für mich endet Freiheit dort, wo es die Freiheit der anderen einschränkt. Und das ist natürlich auch eine ziemlich große Herausforderung, in der unsere Gesellschaft zurzeit steht. Wir wollen die Grundrechte hochhalten, wir müssen aber sehen, dass nicht Artikel 1 auf der Strecke bleibt. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" ist etwas, was jeden Tag auch in Gefahr ist. Auch durch die Meinungsfreiheit. Und das hinzukriegen, in dem Abwägungsprozess, dann aber auch in dem Prozess sozusagen, der tagtäglich stattfindet. Herr Stock hat es gerade angesprochen, welche Kommentare nehmen wir raus? Wo endet die Meinungsfreiheit dann? Das ist eine tägliche Herausforderung. Genauso ist das für die Justiz eine tägliche Herausforderung. Wie geht man mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen um? Oder wie schafft man auch gesetzliche Rahmenbedingungen? Wir haben die Diskussion um das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gehabt. Das sind alles Fragen, wo es Neuland gibt und es ist so, dass wie insgesamt in der Politik die rechtliche Entwicklung, aber auch die soziale Entwicklung hinter der technischen Entwicklung hinterherhinkt.

Wagner: Warum ist es so schwer, rüberzubringen, dass eine Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist?

Jahn: Ja, manchmal denke ich, weil es schon fast zu selbstverständlich ist. Weil es schon fast zu selbstverständlich ist, dass wir hier in einer Gesellschaft leben, wo dieses Gut der Freiheit und besonders der Meinungsfreiheit so einfach missachtet wird. Und in der Hinsicht ist dann auch meine Aufgabe als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, mit dazu beizutragen, dass man aufzeigt, wie war das sozusagen im anderen Teil Deutschlands? Wie war das in der DDR? Wie ist dort durchaus, mit dem Begriff "Deutsche Demokratische Republik", hat das ja mal angefangen, wie ist da was auf der Strecke geblieben? Ich meine, wir haben in der DDR-Verfassung Grundrechte formuliert bekommen, wo drin steht, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit ...

Wagner: Artikel 27 und Artikel 28 ….

Jahn: Genau.

Wagner: ...Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit...

Jahn: Genau. Und in der Hinsicht ist das natürlich dann schon spannend. Wie wird aus dem, was auf dem Papier steht, in der Praxis etwas, was auf der Strecke bleibt. Und das ist ja Schritt für Schritt gegangen. Und es fängt ja eigentlich so richtig dann auch 1968 mit der Verfassungsänderung an, in der man die führende Rolle der SED in den Artikel 1 hineingeschrieben hat. Bei uns sagen wir im Grundgesetz "Die Würde des Menschen..." und dort hat man reingeschrieben "...eine Partei soll die Macht haben, die führende Rolle haben, und das auf ewig". So, und das Ganze wurde noch als Volkes Wille organisiert. Also sprich, man hat eine Volksabstimmung darüber gemacht. Und 96 Prozent haben dafür gestimmt! So, und dann können wir noch dazu sagen, das ist Demokratie. Ja, die Herrschaft des Volkes legt fest, dass eine Partei die führende Rolle hat.
Aber wenn wir dann in die Stasi-Akten schauen, und genau schauen, wie ist es dazu gekommen, zu diesen 96 Prozent? Dann sehen wir ganz genau, wie das System der Angst funktioniert hat, der Einschüchterung. Dass an den Unis sozusagen klar und deutlich gesagt worden ist: Wenn Du nicht dafür stimmst, für diese Verfassung, dann wirst Du nicht mehr weiterstudieren können. In den Betrieben ist Angst verbreitet worden. Das heißt, ein Klima der Angst hat stattgefunden.
Und wenn ich diese Stasi-Akten sehe und lese, dann denk ich, Mensch, jetzt verstehe ich, warum der Erdogan seine Volksabstimmung gewonnen hat. Jetzt verstehe ich, warum in Russland Prozentzahlen manchmal da sind, wo ich mich frage, es kann doch eigentlich nicht wahr sein. So, und deswegen langt es nicht, dass zum Beispiel auch Wahlen stattfinden, wenn nicht andere Rechte gesichert sind wie zum Beispiel Informationsfreiheit, wie halt die Meinungsfreiheit. Wenn es keine freien Medien gibt, da kann natürlich so ein Autokrat immer wieder die Wahlen gewinnen. Und deshalb ist das auch immer in seiner Komplexität zu sehen, diese Grundrechte, die wir brauchen. Und da ist halt die Erfahrung, die wir in der DDR gemacht haben, äußerst wichtig, bis hin zu der Frage, die wir jetzt haben, wenn wir uns das Internet anschauen. Was ist wahr? Was ist nicht wahr? Das ganze Thema Fake News.
Auch da können wir wieder in die Stasi-Akten schauen. Wer hat was mit welchem Ziel aufgeschrieben? Die Stasi, die Desinformationskampagnen richtig organisiert hatte. Und so weiter und so fort. Das ist sozusagen ganz wichtig, uns das noch mal klar zu machen, was es bedeutet, wenn die Meinungsfreiheit nicht da ist. Ich persönlich habe auch die Erfahrung machen müssen sozusagen. Wir haben so ein bisschen in unserer Jenaer Oppositionellenszene nach dem Prinzip gelebt. Wir waren Fans der Westberliner Anarcho-Band "Ton Steine Scherben" und die haben gesungen: "Es gibt keine Freiheit, wenn Du sie nicht nimmst". Oder "wir sind geboren, um frei zu sein".
Das war natürlich ein großer Spruch, aber wie willst du den leben in der DDR? Und dort haben wir halt gesagt, so ein bisschen die Spielräume immer erweitern. Angefangen hat das dann bei mir, als ich von der Universität geworfen wurde, weil ich mich praktisch für den Liedermacher Wolf Biermann eingesetzt hatte, der ausgebürgert wurde,1976. Da habe ich gedacht, jetzt musst du protestieren gegen deinen Rauswurf an der Uni. Und dann bin ich am 1. Mai, wo alle laufen mit den offiziellen Parolen, die da vorgegeben sind ... Das "Neue Deutschland" hat übrigens, auch das zur Pressefreiheit, immer 50 Losungen ausgegeben. Die erste war immer: "Es lebe der 1. Mai." Darin wurde sozusagen die führende Rolle der Partei noch mal bestätigt, und Freunde von mir hatten dann schon im Fenster: "Wie jedes Jahr im Mai sind wir für Losung Nummer 2", so wurde das etwas parodiert. Und ich habe gedacht, wir müssen ein bisschen was öffentlicher machen und habe mich an den Demonstrationszug gestellt mit einem Plakat. Das war nur weiß. Da stand nichts drauf. Aber alle haben es verstanden. Alle haben es verstanden, zu sagen, diesen Protest auszudrücken. Und das meinte ich mit "ein Stück Freiheit sich nehmen". Und das haben wir dann natürlich Schritt für Schritt erweitert.
Und wenn wir dann Aktionen gemacht haben, haben wir natürlich angefangen zu dokumentieren. Das war schon sehr radikal, 1983 eine Demonstration auf der Straße zu machen. Das Ganze war natürlich dann ein bisschen eingekleidet, nicht gleich zu sagen, wir fordern Menschenrechte, sondern wir sind für Frieden. Ja, Abrüstung in Ost und West, das war schon extrem provokativ für diesen Staat, aber das war auch immer wieder die Spielräume erweitern. Und das Ganze dann dokumentiert, fotografiert und dann ganz gezielt an die West-Medien gegeben.
Das heißt, wir haben ein Kuriersystem aufgebaut. Wir haben angefangen, sozusagen die Wege nach West-Berlin so zu organisieren, über akkreditierte Journalisten auch wieder, die in Ost-Berlin saßen für die bundesdeutschen Medien, ZDF, ARD und so weiter. Die waren da auch alle akkreditiert. Aber auch die Zeitungen, "Süddeutsche", "Frankfurter Rundschau" und so weiter, oder "Der Spiegel", die uns dann geholfen haben, als Ansprechpartner, um die Dinge sozusagen in den Westen zu bekommen, um sie dann aber auch zu senden, vom Westen aus, wieder in die DDR hinein. Und das war natürlich etwas, was ganz ganz wichtig war: Wir haben ja keine freien Medien gehabt. Im "Neuen Deutschland" standen nicht nur die Erste-Mai-Losungen, sondern es wurden jeden Tag nur Jubelberichte geschrieben. "Neues Deutschland", das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, wie es offiziell hieß. Also ein Propaganda-Blatt, wenn man so will und keine freie Presse. Und die haben sich dann in den Jubelberichten immer übertroffen und der Höhepunkt war dann, ich glaube 47 Mal war Erich Honecker, der Saarländer, abgebildet damals. Aber nicht wegen des Saarlandes, sondern weil er war halt der erste Sekretär oder später dann der Generalsekretär des ZK der SED. Also in dem Sinne war es immer wieder die Herausforderung, Wege zu finden, die Informationsfreiheit hergestellt haben.

Wagner: Sie haben sich ja ganz schön was getraut damals. Ich war in West- Berlin, da habe ich studiert und war ab und zu drüben und da habe ich sie gesehen, die Herren mit ihren Windjacken und ihren Herrenhandtaschen, was so die etwas übertriebene Beschreibung von Stasileuten ist, überall auf der Straße. Florian Mayer war elf Wochen alt, als die Mauer gefallen ist.

Florian Mayer: Ich würde ganz gerne auf die Rolle der Medienfrage eingehen bei dieser ganzen Geschichte. In Vorbereitung auf den Abend habe ich einen Artikel gelesen, in dem Sie auch mehrfach erwähnt wurden. Sie haben ja für den SFB gearbeitet. Und mich würde da interessieren, bei diesem Ereignis Mauerfall, Zusammenbrechen des Staates, Montagsdemonstrationen, die Rolle der Medien bei der ganzen Geschichte. Wenn man mal daran denkt, die berühmte Pressekonferenz von Günter Schabowski mit dem bekannten Satz: "Soweit ich informiert bin, gilt das ab sofort." Wäre das, was danach passiert ist, tatsächlich passiert, ohne dass da Kameras dabei gewesen wären, ohne dass ein Journalist tatsächlich gefragt hätte, ab wann ist denn das eigentlich so, in der Form, in dem Extrem, dass so viele Leute am Grenzübergang stehen?

Jahn: Die Medien haben schon eine ganz bedeutsame Rolle für gesellschaftliche Entwicklungen. Aber ich will, entschuldigen Sie bitte, damit es verstanden wird, und dass ich beim Sender Freies Berlin war, da ist so ein chronologischer Sprung. Deswegen muss ich das noch erklären. Weil das Stück Freiheit, was wir uns genommen haben, das endete natürlich dann sozusagen mit der Konsequenz, dass ich im Gefängnis gelandet bin. Ich und auch andere, die diese Dinge organisiert haben. In der DDR ist man nicht eingesperrt worden wegen irgendeiner Straftat, sondern weil das Maß voll ist. Und in den Verhören nur zum internen Gebrauch ging es hauptsächlich um diese Ost- West-Kurierwege. Das heißt, man wollte diese Informationswege verhindern.

Wagner: Hieß Eure Ausweisung tatsächlich "Aktion Gegenschlag“?

Jahn: Ja, ich wurde dann sozusagen im Knast dazu gebracht, dass ich einen Ausreiseantrag gestellt habe, weil am Ende, wenn Du nach einem halben Jahr Knast in Einzelhaft dort sitzt, dann hoffst Du nur noch, irgendwann freigekauft zu werden von der Bundesrepublik Deutschland. Dass der Anwalt, der mir den Ausreiseantrag diktiert hat, noch Mitarbeiter der Staatssicherheit war, das ist noch eine andere Geschichte. Das heißt, sie hatten mich genau da, wo sie mich haben wollten. So, und dann aufgrund von Protesten im Westen, auch da wieder die Medien, Franz Alt, Südwestfunk Baden-Baden, ARD-Magazin "Report", kennen vielleicht manche noch, jetzt in Mainz. Der hat damals eine Sendung über uns gemacht, die in Haft waren. Und zwei Tage später war ich frei.
Also schon da fängt es an, dass Medien eine irre Bedeutung haben. Auch gerade wenn wir jetzt in die Welt schauen. Dass Solidarität stattfindet, ist auch sowieso etwas, wo Medien dafür sorgen, dass sie stattfinden kann. Aber auch überhaupt, dass viele Menschen davon erfahren. Deswegen ist es immer wieder wichtig, dass wir berichten über das, was in der Welt geschieht. Wo Menschen im Gefängnis sind und dass das auch helfen kann.
Mir hat es ganz konkret geholfen, dass ich rausgekommen bin und das war für mich natürlich ein Triumph und ich habe mir gesagt, was ich da im Knast geschrieben habe, das zählt nicht. Ich entscheide frei, wo ich lebe und wo nicht. Und nicht weil die DDR das bessere System war. Es war meine Heimat, da bin ich geboren, dort bin ich aufgewachsen, dort habe ich meine Freunde, dort habe ich meine Familie und all das, was noch dazu kommt, was Heimat ausmacht. Und das hat man aber nicht akzeptiert und hat dann gesagt, einsperren können wir ihn jetzt nicht wieder, wegen der Proteste, jetzt sperren wir ihn aus.
Und dann hat man mich sozusagen in einer großen Aktion der Staatssicherheit - von Erich Mielke persönlich unterschrieben, "Abschiebegewahrsam sichern" stand auf dem Befehl -, hat man mich dann an den Grenzbahnhof Probstzella, der nach Bayern sozusagen rübergeht, gebracht und nachts hat man mich dann wie ein Stück Frachtgut in den Zug geworfen. Und so kam ich dann im Westen an und da habe ich mir gesagt: Nein, die sind dich nicht los. Und dann habe ich halt angefangen, Journalisten zu unterstützen, mit Informationen aus dem Osten. Habe dieses ganze Kuriersystem noch perfektioniert und habe dann sozusagen die Brücke der Informationen zwischen Ost und West gebildet.
Und das Gute war halt, dass zum Beispiel dpa in Berlin, die wussten, wenn es von mir kommt, dann ist das dreimal geprüft, dann ist das eine zuverlässige Quelle. Auch da war wieder wichtig, dass journalistische Regeln beachtet werden. Und dann war ich sozusagen ein zuverlässiger Partner und dann kam der Punkt, wo ich gesagt habe, so, wir müssen mehr machen. Da haben wir angefangen mit Radio. "Radio Glasnost" nannte sich die Sendung in Berlin. Der erste Privatsender in Berlin hatte sozusagen ein Fenster geöffnet für eine Stunde Berichterstattung über die Opposition in der DDR, besonders in Ost- Berlin. Und das war schon mal total wichtig.
Ich habe dann Tonbandgeräte rübergeschickt. Die haben dort angefangen, Veranstaltungen mitzuschneiden, Interviews zu machen und so weiter und haben das dann nach West-Berlin geschickt, und dann haben wir in West- Berlin die Sendung zusammengeschnitten. "Radio Glasnost" natürlich so ein bisschen neue Offenheit in der Sowjetunion auch für die DDR. Und vor allen Dingen auch in der freien Berichterstattung. Aber das war mir nicht genug. Und dann habe ich gesagt, wir müssen Fernsehen machen. Das kommt in die Wohnzimmer, das kommt zu der breiten Bevölkerung und nicht nur zu diesen Oppositionskreisen. Wobei auch das schon wichtig war, weil diese Radiosendungen, die wurden aufgezeichnet. Die wurden per Kassetten in der ganzen DDR verteilt. Aber selbst das Verteilen der Kassetten hat die Leute ins Gefängnis gebracht. Also es war immer mit hohem Risiko verbunden, sowohl die Information von Ost nach West als auch dann die Information, die aus dem Westen kam, wieder zurück zu verbreiten.
Fernsehen war natürlich dann eine Nummer, weil die Menschen in der DDR, ich kannte das ja selber noch, die saßen natürlich abends vorm West-Fernsehen. Die "Tagesschau", das war unsere Informationsquelle. Natürlich gab es auch Unterhaltung, "Sportschau" und "Beat-Club". Aber natürlich die wichtigen politischen Sendungen, die haben wir gesehen und das Politik- Magazin "Kontraste" war ein Pflichtprogramm. Oder "Kennzeichen D" im ZDF.

Wagner: Wir könnten den ganzen Abend, glaube ich, alleine mit Ihnen bestreiten vom Interesse her. Aber ich wollte noch mal zurückkommen auf die Frage: Wenn Robin Lautenbach nicht an der Bornholmer Straße gestanden hätte, was wäre dann passiert?

Jahn: Das war nur ein Punkt. Ich gehe trotzdem nochmal den Schritt zurück, nicht zu mir, aber wir haben ja einen Monat vorher, und dieses Datum wird im Westen Deutschlands manchmal vergessen, nämlich der 9. Oktober. Der 9. Oktober ist etwas gewesen, was sozusagen eine ganz große Bedeutung hat. Erstmals sind 70.000 auf der Straße gewesen. 70.000! Wochen vorher waren sie noch 70, die da angefangen hatten mit einem Plakat, am 4. September, für ein freies Land mit freien Medien. Aber selbst diese Demonstration am 4. September war schon so, dass ARD und ZDF dort waren, weil Messe war und da konnten oder wollten sie die West-Korrespondenten nicht ausschließen. Und diese Bilder vom 4. September haben wir dann in "Kontraste" gesendet, am 12. September und haben damit schon mal so ein Zeichen gesetzt gehabt. Da haben wir schon gemerkt, was das an Reaktionen auch hatte und so weiter durch unsere Kontakte in die DDR hinein. Gerade auch über den Bericht über den Altstadtzerfall in Leipzig, was sozusagen aufgezeigt hat, wie schlimm so eine Situation im Lande ist.
Und der 9. Oktober hat so eine Spannung gebracht in dieses Land. So, und dann haben wir gesagt: Mensch, unsere Freunde, ihr müsst unbedingt nach Leipzig fahren. So, das waren zwei junge Männer, die mit hohem Risiko schon immer überhaupt unterwegs waren, mit dieser Videokamera, die ich vom Westen aus rübergeschickt habe. Da gab es Paragrafen, das hätte zwölf Jahre kosten können im Gefängnis.

Wagner: Das waren Siegbert Schefke und Aram Radomski ...

Jahn: Genau.

Wagner: ...die beide auch den Siebenpfeiffer Preis bekommen haben.

Jahn: 1991

Wagner: Wir betonen, ebenso wie Franz Alt auch.

Jahn: Genau. Also die beiden, unter hohem Risiko haben sie Stasi und Polizei ausgetrickst, sind auf einen Kirchturm geklettert und haben diese 70.000 aufgenommen und die Bilder dann nach Westen geschmuggelt. Der "Spiegel"- Korrespondent Uli Schwarz hat die in der Unterhose versteckt, wird immer erzählt, und hat die dann praktisch in den Sender Freies Berlin gebracht, und die haben wir dann gesendet. Und das ist natürlich etwas gewesen, was von enormer Bedeutung war. Als die Menschen in der DDR, diese 70.000 gesehen haben, und dass vor allen Dingen nichts passiert ist, dass es friedlich geblieben ist, das hat die Lawine für die ganze DDR mit losgetreten. So, und da ist die Rolle der Medien von enormer Bedeutung. Und dann ging es natürlich weiter bis zum 9. November, sehen Sie, und da komme ich doch noch auf die Frage - es ist ja schon fast wie bei Gauck, der immer predigt...

Wagner: Das haben Sie jetzt gesagt.

Jahn: Aber Nein, der 9. November war natürlich dann auch etwas, wo die Bilder eine Kraft gekriegt haben, und das alles mit losgetreten hat. Außerdem war ja manches, die Medien waren der Entwicklung ja manchmal voraus. Das heißt, natürlich der Druck kam aus Leipzig, der Druck kam durch die Botschaften. Und die Bilder übrigens, die Bilder aus Ungarn, die Bilder vor der Botschaft, das waren ja Bilder, die wir ständig gesendet haben. Und es war ja so, dass gerade die Fluchtbewegung, auch wieder diese Medienbilder, haben ja was provoziert. Ja, es hieß ja schon, wer noch was auf sich hält, geht in den Westen und flüchtet. DDR wurde abgekürzt mit "Der dämliche Rest".
Und dadurch und auch bei der Demonstration in Leipzig waren die Ausreiser besonders dominierend, bei den Messetagen zumindest. Die schrien immer "Wir wollen raus" und da schrien die anderen "Wir bleiben hier". Und da haben die Medienbilder mit dafür gesorgt, dass das Bewusstsein dafür, wenn wir bleiben, müssen wir auch etwas ändern, sich gesteigert hat. Und das hieß natürlich, der 9. November, der lag in der Luft. Und ob Schabowski sich jetzt verliest oder da rumstottert, das war am Ende egal. Wenn es an dem Tag nicht gewesen wäre, dann wären die eine Woche später aus Leipzig nach Berlin marschiert. So hat die Situation gekocht und es war ja auch der 4. November schon mit einer halben Million - die Schätzungen sind immer wieder unterschiedlich - auf dem Berliner Alexanderplatz. Da war ja auch schon die Stimmung "laufen die jetzt zum Brandenburger Tor oder nicht, was passiert da?"
Und deswegen kann ich nur sagen, dass es am 9. passiert ist, das war zwangsläufig dann und der Zettel war so der letzte Punkt. Aber dass Hajo Friedrichs dann schon sagt, die Tore in der Mauer sind schon weit offen, dabei war noch gar nicht in der Bornholmer alles aufgemacht. Aber das hieß natürlich, als er das sagte, oh jetzt schnell, zieh dich an, wir gehen los. Und das war natürlich eine Atmosphäre, nicht nur in Berlin da an der Bornholmer Straße am Grenzübergang, sondern das war ja schon auch selbst in Marienborn, da fuhren die Leute schon mit Trabbi oder Wartburg hin und sagten, die Grenze ist offen, wir wollen jetzt durch. Und so hat sich das ja fortgesetzt an den verschiedenen Grenzübergängen.
Und von den nächsten Tagen kann ich nur sagen, das war schon enorm, zu erleben, wie die Massen kamen. Für mich persönlich war es natürlich verkehrte Welt. Ich hatte das Privileg, im Ersten Deutschen Fernsehen die ersten Maueröffnungsbilder zu kommentieren, das war für mich natürlich eine persönliche Genugtuung, nach sechs Jahren sozusagen, wo ich gesagt habe, so, wir müssen Löcher in die Mauer bohren, dass sie umfällt. Nach sechs Jahren dann diese Bilder zu kommentieren, das ging mir schon ans Herz. Aber eins war klar: als die Sendung zu Ende war, bin ich gegen den Strom, der von Ost nach West kam, von West nach Ost, nach Hause, nach Jena zu meinen Eltern.

Wagner: Vielen Dank Roland Jahn. Vielen herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind. Wir werden nachher noch Gelegenheit haben, mit Ihnen zu sprechen. Es gibt ganz ganz viele Fragen. Ich habe es so ähnlich gemacht wie Sie. Ich war zufällig - ich habe schon in Saarbrücken gelebt und gearbeitet -, aber ich war zufällig am 9. November 1989 in Berlin. Und wir haben Checkpoint-Jumping gemacht, was man sonst ja nicht so konnte, und sind auch gegenläufig gelaufen. Und ich fand das sehr schön, dass sich Hunderttausende Leute, die sich nicht gekannt haben, offen begegnet sind und jeder sich gefreut hat, dass sich was tut in diesem Lande.

Dokumentation eines Interviews mit Roland Jahn, geführt am 28. Oktober 2019 bei der Tagung "Freie Medien Freiheit – Die Rolle freier Medien in der Demokratie" im Landtag in Saarbrücken.